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5.2.4 Der Systembegriff
ОглавлениеWas macht eigentlich ein soziales (oder auch ein psychisches) System aus? Die deutschsprachige Theoriebildung unterscheidet sich hier sehr von dem Verständnis im angelsächsischen Sprachraum. Dort wird davon ausgegangen, dass ein System, etwa eine Familie, aus Menschen besteht: »Herr und Frau Braun sowie die beiden Kleinen … [werden] als ›Elemente‹ verstanden, die sich beim Zusammenleben wechselseitig beeinflussen und die im Laufe der Zeit wachsen und sich verändern« (Jones, 1995, S. 24). Aus Sicht der in Abschnitt 5.2.3 beschriebenen Systemtheorien ist das eine problematische, theoretisch nicht voll durchdachte Annahme. Schon wenn man sagt, dass etwa eine Familie aus »Mitgliedern« besteht, denkt man nicht mehr abstrakt an »Menschen«, sondern an spezifische Menschen, deren Mitgliedschaft sie berechtigt, zum System dazugezählt zu werden. Nicht jeder »Mensch« ist »Mitglied«. Mitgliedschaft ist nichts Materielles, sondern das Ergebnis sinnhafter Zuschreibungen und der Annahme dieser Zuschreibungen. Dieser Vorgang ist ohne Kommunikation nicht vorstellbar. So ist es konsequent, sich psychische und soziale Systeme nicht materiell vorzustellen, sondern davon auszugehen, »dass soziale Systeme … nicht aus festen Partikeln (ganz zu schweigen von ›Individuen‹) bestehen, sondern nur aus Ereignissen, die, indem sie vorkommen, schon wieder verschwinden« (Luhmann, 2000, S. 152).
Statt Systeme als aus Menschen bestehend zu konzeptualisieren, sucht die Theorie sozialer Systeme also nach einem alternativen Verständnis ihrer psychischen wie sozialen »System-Elemente«. Als Elemente des psychischen Systems gelten Gedanken und Gefühle. Psychische Systeme bestehen aus den Mustern, wie ein Gedanke an den anderen anschließt, von »affektlogischen Vorgängen«, bei denen Denken und Fühlen untrennbar verbunden sind (Ciompi, 2005). Soziale Systeme »bestehen« in dieser Theorie aus der Art und Weise, wie eine Kommunikation (als Element) an andere Kommunikationen anschließt und darauf Kommunikationsmuster als »das System« entstehen.
Was ist der Mehrwert einer solchen Theorie? Die Vorstellung, dass Menschen die »Bestandteile« sozialer Systeme seien, kann dazu verleiten, sich das Verhalten von Menschen durch die Unterstellung von Motiven (»Das hat A gemacht, weil er auf B sauer war!«) oder durch Hypothesen über körperliche oder seelische Zustände zu erklären. Durch den neuen Systembegriff konzentriert sich die Therapie auf das zwischen den Menschen – wie auch immer – entstandene Kommunikationssystem, das mehr und etwas anderes ist als die Zusammenstellung der Bewusstseine der einzelnen Akteure.
Kommen wir zum Ende dieses Abschnitts also zu einer Definition des Chamäleon-Wortes »systemisch«:
Als systemisch bezeichnen wir eine Form des Zugangs zu menschlichen Lebenswelten,
• die physische, psychische und soziale Ebenen unterscheidet,
• die dort beobachtbaren Muster als selbstorganisiert ansieht
• und die bei jedem Phänomen jeweils mögliche Kontextbedingungen in den Blick nimmt, um dieses zu verstehen.
Die Differenz der verschiedenen Perspektiven und Beschreibungen bildet den Ausgangspunkt für die Erarbeitung neuer Sinnstrukturen.