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5.3.5 Von der Familientherapie zur systemischen Therapie

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Zwischen Ende der 1960er und Mitte der 1980er Jahre erreichte die Familientherapie in den USA ihren Höhepunkt, während sie sich in Europa, Israel und Lateinamerika erst ab Ende der 1970er Jahre ausbreitete. Diese Zeit war geprägt durch großen Veränderungsoptimismus, eine sehr aktive Haltung der Therapeuten, die Entwicklung oft drastischer therapeutischer Interventionen, scharfe Abgrenzung besonders gegenüber der Psychoanalyse und lebhafte Konkurrenz zwischen den einzelnen Ansätzen.

In den späten 1980er Jahren wurde diese direktive, oft auch manipulative Praxis infrage gestellt. Systemische Praxis bewegte sich von der einflussnehmenden Intervention weg hin zu einem »Konversationsansatz« (Boscolo, Cecchin, Hoffman & Penn, 1988): Die Art und Weise, wie in der Familie Sinn verarbeitet wird, soll im Gespräch auf eher sanfte Weise herausgefordert werden. Hierzu passte auch die aufkommende Arbeit mit dem Reflektierenden Team, bei der die grundlegende Forderung lautet, dass die Ratsuchenden jederzeit »Nein« zu der Beschreibung sagen können sollen, die ihnen von Beratern und Teammitgliedern angeboten wird (Andersen, 1990; Hargens & v. Schlippe, 2002)

• Die strukturelle Familientherapie Salvador Minuchins (1921–2017) war in dieser Zeit neben der Tätigkeit von Virginia Satir ausgesprochen populär (beide gingen sich übrigens zeitlebens aus dem Weg). Sein Ansatz ging vom Begriff der Grenze aus, durch die sich die Familie in Subsysteme ausdifferenziert. Er vertrat ein explizit normatives Bild von Familie: Eltern müssen das elterliche Subsystem funktionsfähig und entscheidungsfähig halten und das partnerschaftliche Subsystem deutlich davon und vom Subsystem der Kinder abgrenzen. Jede Familie benötigt eine zu ihren Lebensbedingungen passende »Struktur« und funktionierende Grenzen nach außen und innen. Störungen finden sich, wo Grenzziehungen zu stark (Vernachlässigung) oder zu schwach (Überfürsorglichkeit) sind. Die Therapie zielt darauf ab, angemessene intergenerationale Grenzen in der Familie und eine klare Autorität der Eltern wieder aufzubauen (Minuchin, 1977). Als charmanter und konfrontationsbereiter Südamerikaner inszenierte Minuchin mit einem großen Repertoire überlegter Techniken, spontanen kreativen Ideen und Humor sog. »Enactments«, also unmittelbar im Therapieraum neu zu erprobende Interaktionen. Er war bekannt für seine drastische Metaphern, um Grenzen zu verdeutlichen oder Autorität wiederherzustellen: »Ah, du hast keine eigene Stimme, deine Mutter ist deine Bauchrednerin!« oder: »Wie haben Sie es geschafft, diese Monster zu erschaffen?« (an die Mutter dreier Halbwüchsiger).

• Strategische Familientherapie verbindet sich mit dem Namen Jay Haleys (1923–2007). Auch dieser betonte die Bedeutung klarer Hierarchien für das gesunde Funktionieren sozialer Systeme. Sein Interesse galt »perversen Dreiecken« – Situationen, in denen ein höherstehendes Systemmitglied (z. B. Elternteil) mit einem Mitglied der jeweils niedrigeren Hierarchiestufe (z. B. Kind) gegen ein drittes gleichrangiges Mitglied (den anderen Elternteil) eine offene oder – schlimmer noch – eine verdeckte Koalition bildete (Haley, 1980). In seinem Ansatz wurden kreative, oft ganz einfache Lösungen für vertrackte Probleme gesucht. »180-Grad«-Lösungen etwa sind Vorschläge, die dazu auffordern, etwas zu tun, was das Gegenteil der bisherigen Versuche darstellt. Berühmt wurden auch seine »Ordeals« (Haley, 1989): Einem von einem Symptom geplagten Menschen wird eine »wohlgemeinte Qual« auferlegt, die für ihn zwar nützlich ist (z. B. nachts zwei Stunden zu putzen oder am Stehpult zu lernen), doch aufwändiger, schwieriger und unangenehmer als das Symptom selbst.

• 1975 stellte die Gruppe um Mara Selvini Palazzoli ein aufsehenerregendes Buch über Familien mit schizophrenen und anorektischen Mitgliedern vor, das das »Mailänder Modell« begründete: Paradoxon und Gegenparadoxon (Selvini-Palazzoli, Boscolo, Cecchin & Prata, 1977). Als methodische Neuerung wurden das zirkuläre Fragen und eine besondere Form des paradoxen Intervenierens eingeführt: Im Rahmen einer oft orakelhaften Schlussintervention wurde der Familie eine paradox erscheinende Aufgabe gestellt (etwa, das Symptom derzeit noch nicht aufzugeben, da es in der Familie offenbar eine wichtige Funktion erfülle). Die Familie galt als regelgeleitetes System, Gefühle waren nur von ihrer kommunikativen Funktion her von Interesse: »Die Macht liegt in den Spielregeln« (Selvini Palazzoli et al., 1977, S. 15). Die Familie leidet zwar, weicht aber einer Veränderung aus, um das Spiel nicht zu beenden. Der paradoxe Auftrag: »Ändert uns, ohne uns zu ändern!« wird nun mit dem »Gegenparadoxon« beantwortet: »Wir verändern euch nur unter der Bedingung, dass ihr euch nicht ändert!«. Die Therapie konnte sich als »lange Kurztherapie« über Monate oder Jahre hinstrecken, die Gesamtzahl der Sitzungen jedoch blieb gering, da zwischen den Terminen lange Zeitintervalle lagen. Das Setting war wegweisend für systemische Therapie, weil es das Prinzip des »Beobachtens des Beobachters« umsetzte ( Kap. 36): Ein oder zwei Therapeuten arbeiteten mit der Familie, zwei andere saßen hinter der Einwegscheibe und beobachteten die Sitzung. Die Sitzung wurde durch ein »Hineintelefonieren« oder ein »Herausklopfen« unterbrochen, wenn die Beobachter meinten, dass die Therapeuten etwas Wichtiges übersehen haben oder von der Systemdynamik gefangengenommen worden waren.

• Zunehmend wurde in der Weiterentwicklung systemischer Praxis die strukturelle Macht, die sich in dieser Form der Settinggestaltung und der Art der Beziehungsaufnahme ausdrückte, kritisch hinterfragt ( Kap. 34). Das Mailänder Team trennte sich. Luigi Boscolo und Gianfranco Cecchin formulierten ein »Mailänder Modell« (oft »Mailand II« genannt), das die bisherigen Prämissen hinterfragte (Boscolo et al., 1988). Sie setzten auf ein dialogisches Kooperationsmodell, in dem sie sich eher als Systemberater (»system-consultant«) verstehen, denn als »Therapeuten«.

• Mailand II wurde in Europa intensiv aufgenommen. Der Norweger Tom Andersen gab den Anstoß zur Entwicklung des Reflektierenden Teams. Das dialogische Konzept wurde hier mit dem Konzept des Beobachtens von Beobachtungen verbunden und in eine besondere Form gebracht, indem ein mit im Raum sitzendes Beobachtungsteam das Gespräch verfolgt und durch ein bis zwei Reflexionsgespräche kommentiert – immer unter der erwähnten Maßgabe, dass für die Klienten das »Nein« grundlegend sein müsse (Andersen, 1990). Da diesem Ansatz ein eigenes Kapitel ( Kap. 36). im Buch gewidmet ist, wird es an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt

• Die Gegenwart systemischer Praxis in Deutschland ist durch eine große Vielfalt möglicher Zugänge zu Dynamiken sozialer Systeme gekennzeichnet. Die meisten systemisch arbeitenden Kollegen berufen sich auf die beschriebenen Grundprinzipien systemischer Erkenntnistheorie mit den damit verbundenen Anforderungen an therapeutische Haltungen ( Kap. 34) und setzen auf dieser Basis in Einzel- oder Mehrpersonengesprächen systemische Methoden ein. An der Realisierung der »reinen Lehre« eines spezifischen Modells, so vermuten wir aus unserer Erfahrung in Ausbildung und Praxis, ist kaum ein Praktiker interessiert. Das Bonmot von Orlinsky über die moderne Sozialisation von psychotherapeutischen Praktikern »Learning from many masters« (Orlinsky, 1994) scheint sich in der systemischen Praxis durchgesetzt zu haben.

1 https://systemische-gesellschaft.de/

2 https://www.dgsf.org/

3 Hier beziehen wir uns auf das erste »Lehrbuch«, das wir gemeinsam 1996 geschrieben haben. Die 2012 erschienene Neuausgabe wurde von uns so umgearbeitet, dass es sich dabei im Grunde genommen um ein neues Buch handelt.

4 In einem weitläufigen Verständnis erzählt auch der Körper »Geschichten«, das Stichwort »Embodiment« kann hier leider nur angerissen werden (Tschacher & Storch, 2017).

5 In der narrativen Theorie werden damit feine sprachliche »Wurzelgeflechte« beschrieben (Deleuze & Guattari, 1977).

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