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5.2.3 Moderne Systemtheorien
ОглавлениеDiese Überlegungen beschreiben vorwiegend die Diskurse im europäischen bzw. deutschsprachigen Raum; die amerikanische Literatur ist weitgehend den klassischen Formen der Systemtheorie (Whitchurch & Constantine, 2009) treu geblieben. Im deutschsprachigen Raum wurden nun zwei systemtheoretische Ansätze populärer: die aus der Sozialwissenschaft stammende Theorie sozialer Systeme (Luhmann, 1984) und die Theorie dynamischer Systeme, die auf den Physiker Hermann Haken zurückgeht (Kriz, 2017; Strunk & Schiepek, 2006).
Die Theorie sozialer Systeme setzt an dem Gefüge aus Erwartungen und Erwartungs-Erwartungen an, das die Mitglieder eines sozialen Systems ausgebildet haben. Zentral ist die »Kontingenz«, also die Ungewissheit jeglichen sozialen Geschehens: Menschen können nie wissen, was in dem anderen genau vor sich geht. Ein Lächeln muss nicht unbedingt Freundlichkeit bedeuten, es ist »kontingent«, d. h. es könnte auch ganz anders gemeint sein. Da beide Seiten sich dieses Umstands bewusst sind und auch wissen, dass ihr Gegenüber weiß, dass sie es wissen, spricht man von »doppelter« Kontingenz (Luhmann, 1984, S. 148 ff.). Dieses sieht die Systemtheorie als Ausgangspunkt dafür, dass überhaupt Kommunikation entsteht. Man »weiß« eben nicht, auf was man sich beim anderen einstellen kann, daher beobachten beide Seiten einander und versuchen, die kommunikativen Signale des anderen zu entschlüsseln. Und man stellt Hypothesen darüber auf, was er oder sie wohl »wirklich« denkt/fühlt usw. Diese Erwartungsstrukturen beeinflussen das Erleben und Verhalten der Akteure. Wie Laing et al. zeigen konnten, kann sich so zwischenmenschliches Unglück einstellen und verfestigen, wenn – wie im Falle der von ihnen untersuchten Paare – beide Partner zwar klar sagen, dass sie den jeweils anderen lieben, dass sie aber unsicher seien, ob sie vom anderen wirklich geliebt werden (Laing, Philipson & Lee, 1973). Derartige misstrauische Erwartungsstrukturen tendieren natürlich dazu, sich selbst zu bestätigen: wenn eine Partner davon überzeugt ist, dass der andere ihn nicht schätzt, wird er sich so verhalten, dass alles, was an positiven Signalen kommt, verworfen bzw. infrage gestellt wird – und wenn das Gegenüber dann »genervt« reagiert, hat man den »Beweis«: Er hat ja vorher nur so getan als ob.
Eine ganze Reihe systemischer Methoden und Techniken zielt auf diese Erwartungs-Erwartungen, etwa das »zirkuläre Fragen« (Simon & Rech-Simon, 1999; Kap. 39): Eine Person wird nicht direkt gefragt (etwa: »Warum weinen Sie?«), sondern es wird der kommunikative Aspekt ihres Verhaltens erfragt: »Was glauben Sie, was in Ihrem Sohn vorgeht, wenn er Ihren Mann weinen sieht?« (v. Schlippe & Schweitzer, 2012, S. 252 ff.). Wenn die Mutter hier die Antworten der anderen Personen hört, bekommt sie eine komplexe Rückmeldung über ihre eigenen Erwartungsstrukturen. Ihre intuitiven inneren Bilder davon, wie das Elternpaar von ihrem Sohn beobachtet wird, erfahren möglicherweise eine Korrektur – und nicht nur sie, sondern auch ihr Mann erfährt etwas darüber, wie die Beziehung zwischen ihm und seiner Frau vom Sohn beobachtet wird. Ähnliches gilt für die sogenannte Skulpturarbeit, bei der ein Teilnehmer aufgefordert wird, die Systembeziehungen im Raum symbolisch darzustellen. Auf diese Weise wird eine neue Form von »Selbstreferenzschleife« eingeführt, durch die das ratsuchende System dazu gebracht, sein eigener »Beobachter« zu werden, durch die Rückkopplung kann die Person ihren eigenen Zustand überprüfen und verändern (v. Schlippe & Schweitzer, 2019). Und schließlich gilt das auch für die Arbeit mit dem »Reflektierenden Team«, wo die Klienten dem Gespräch des Teams über das therapeutische Gespräch zuhören und dabei neue Ideen darüber entwickeln können, wie sie von anderen Menschen wahrgenommen werden (s. u.; Kap. 36)
Die eher naturwissenschaftlich ausgerichtete Theorie komplexer dynamischer Systeme (auch »Synergetik«) fragt ganz allgemein danach, wie eigentlich Ordnung entsteht und zwar in lebenden wie in physikalischen Systemen (Haken entwickelte die Theorie am Beispiel des Laserlichts: Die spontan auftretende rhythmische Veränderung der Lichtwellen unter bestimmten Umgebungsbedingungen ist Musterbeispiel einer solchen selbstorganisierten Ordnung). Übertragen auf Dynamiken in sozialen Systemen werden Ordnungsmuster beobachtet, die sich zwischen den Akteuren entwickeln. Kommunikative Muster entstehen einfach nur, »weil sie entstehen« und sie tendieren dazu »immer wieder gleich« abzulaufen (die sog. »Iteration«), auf einen stabilen Zustand zulaufen, einen »Attraktor«. Die beobachtbaren Verhaltensweisen in einem System werden folglich nicht einer besonderen »Ursache« zugeschrieben. Kriz (2017, S. 181). Die Synergetik fragt, wie sich aus einzelnen Elementen (z. B. einzelnen Interaktionen), die immer wieder gleich ablaufen (Iteration), Muster auf der Makroebene entwickeln (Kommunikationsmuster), die dann ihrerseits wieder die Elemente steuern. In der Theoriesprache heißt es dann: ein »Ordner« ist entstanden, der die Elemente »versklavt«.
Auf Therapie übertragen, bedeutet dies, nicht nach den Ursachen (oder gar »der« Ursache) zu suchen, sondern Wege zu finden, wie die Muster auf eine Weise angeregt werden können, in »kritische Fluktuationen« zu geraten, mit der Chance auf Veränderung, auf »Phasenübergänge«. Dann ist ein System extrem sensibel für kleinste Veränderungsimpulse (»Schmetterlingseffekt«): Kleine Impulse können große Wirkungen zeigen, während in einem stabilen Zustand auch starke Impulse das Muster nicht erschüttern. Damit wird ein herkömmliches Verständnis von Kausalität kritisch gesehen – sei es für das Zustandekommen von Störungen oder für deren Veränderung.