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5.3.3 Wachstum, Selbstwert, Emotionen: erlebnisorientierte Familientherapie
ОглавлениеUnter dieser Überschrift fassen wir humanistisch-psychologische Ansätze zusammen, die sich durch die Betonung des Erlebens »im Hier und Jetzt« auszeichnen. Es geht um eine Erweiterung der menschlichen Möglichkeiten, um die Initiierung unmittelbarer Erfahrungen und Begegnungen im Beratungsraum: »Sagen Sie es ihm direkt!«. Zu den Gründerpersönlichkeiten gehören Virginia Satir, Carl Whitaker, Walter Kempler, Fred und Bunny Duhl, Carol Gammer, Martin Kirschenbaum, Maria Bosch und andere. Beispielhaft stellen wir zwei Persönlichkeiten an dieser Stelle vor.
• Für Virginia Satir (1916–1988) ist das Selbstwertgefühl der Schlüssel zum Kommunikationssystem (Satir, 1990; Tschanz Cooke, 2014). Sie verknüpfte mit diesen Begriffen die Ebene des psychischen Erlebens mit dem sozialen Prozess der Kommunikation. Eine kongruente, stimmige Kommunikation ermöglicht die Entwicklung eines stabilen Selbstwertgefühls. Selbstwert ist ebenso die Voraussetzung für stimmige Kommunikation wie auch Folge davon. Wenn der Selbstwert bedroht ist, neigen Menschen dazu, inkongruent zu kommunizieren (vier typische Formen sind: besänftigen, anklagen, rationalisieren, ablenken). Damit entstehen »geeichte Kommunikationsschleifen«, denn die gesendeten Signale sind für das jeweilige Gegenüber nicht klar zu entschlüsseln. So kommt es zu Vermutungen, Unterstellungen, man »weiß« schon, was der andere sagen will, schneidet ihm das Wort ab usw. Beide Seiten kommunizieren inkongruent und das Karussell negativer Gegenseitigkeit dreht sich (Bandler, Grinder & Satir, 1976). Für Satir ist destruktiv und krank erscheinendes Verhalten Ausdruck solch niedrigen Selbstwerts. Die Förderung von Selbstwerterleben ist daher das wesentliche Ziel ihrer Therapie. Ihr Name ist eng mit der Methode der Familienskulptur und dem Konzept der Familienrekonstruktion (vgl. Kap. 37) verbunden.
• Carl Whitaker (1912–1995) experimentierte in seinen Therapien mit schizophrenen Kommunikationsformen, indem er meist noch »eine Prise Verrücktheit« hinzufügte und damit diese auf die Spitze trieb (beschrieben in Keith & Whitaker, 1999). Für ihn besteht das Wesen psychischer Erkrankungen im Verlust des Humors und der Fähigkeit zu spielen – seine oft verwirrend kreative Praxis zielte darauf, dass Familien das Spielen wieder erlernen sollten (Whitaker, 1991).
Die Ansätze, die sich auf die humanistische Psychologie beriefen, und die systemische Therapie im engeren Sinne (s. u.) entwickelten sich über längere Zeit unabhängig voneinander. Die starke Konzentration auf die Person passte nicht zu den Überlegungen etwa der Mailänder Gruppe, sich von allen Überlegungen über das Innere eines Menschen zu befreien und nur die Verstörung der kommunikativen Spiele anzustreben. Ab etwa der zweiten Hälfte der 1990er Jahre lässt sich von einer erneuten »emotionalen Wende« in der systemischen Therapie sprechen. Diese wurde durch die Auseinandersetzung mit aktuellen Forschungsrichtungen unterstützt:
• Die Bedeutung minimaler mimischer Signale und affektiver Kommunikation für das gemeinsame Erzeugen einer kooperativen Beratungssituation rückte zunehmend in den Blick (Ciompi, 1988; Streeck, 2004; Welter-Enderlin & Hildenbrand, 1996).
• Die von John Bowlby begründete und von Mary Ainsworth methodisch weiterentwickelte Bindungstheorie erwies sich in vieler Hinsicht als anschlussfähig zum systemischen Denken (Sydow, 2008).
• Die psychologische und neurobiologische Traumaforschung zeigte die Rolle heftiger emotionaler negativer Erfahrungen auf, die für viele systemische Interventionen allein nicht zugänglich sind (Hanswille & Kissenbeck, 2014).
• Die neurobiologische Forschung brachte neue Ergebnisse zur menschlichen Empathiefähigkeit unter anderem über Spiegelhormone und das Bindungshormon Oxytocin (s.z. B. Bauer, 2006).
Charakteristisch für die »emotionalen« Konzepte in der systemischen Therapie ist das bewusste Gestalten eines »sicheren Rahmens« als Basis der Kooperation durch eine freundlich-liebevolle Beziehungsgestaltung und die Vermittlung von Hoffnung und Optimismus. Der Therapeut interessiert sich für Unterschiede der Emotionsregulierung zwischen den Partnern oder Familienmitgliedern und versucht ihnen zu helfen, diese einander wechselseitig besser verständlich zu machen.
Diesem Fokus lassen sich drei Ansätze zuordnen, die besondere Aufmerksamkeit gefunden haben:
• Die emotionsfokussierte Paartherapie (EFT): Die EFT nach Leslie Greenberg und Susan Johnson verbindet klientenzentrierte Praktiken (z. B. Validierung des Gesagten, Reflektieren zugrundeliegender Emotionen, Intensivierung von Emotionen, Einnehmen einer Ich-Position) mit systemischen Praktiken (z. B. Teilearbeit und restrukturierende Interaktionen). Die Therapie ist in drei Phasen untergliedert: 1. Deeskalation negativer Zyklen; 2. Entwicklung von Haltungen und Interaktionsmustern, die offenes Reagieren und sicheres Binden fördern; 3. Konsolidierung und Integration (Greenberg & Johnson, 1988).
• Die bindungsorientierte Familientherapie: Für suizidale, zugleich oft depressive Jugendliche aus armen Familien mit vielen traumatischen Alltagserfahrungen entwickelten Guy Diamond und Mitarbeiter in Philadelphia eine auf dem strukturellen Ansatz ( Kap. 5.3.5 weiter unten) beruhende bindungsbasierte Familientherapie, die darauf zielt, unterbrochene und beschädigte Eltern-Kind-Bindungen im emotionalen Austausch wieder zu reparieren (Diamond & Liddle, 2010).
• Die mentalisierungsbasierte Familientherapie: »Mentalisieren« ist die Fähigkeit, sich und anderen Menschen mentale Zustände zu unterstellen, also den eigenen Verhaltensweisen und denen des Gegenübers Gründe und Motive zuzuschreiben. In der mentalisierungsbasierten Familientherapie mentalisieren die Beraterinnen selbst aktiv, indem sie innere Vorgänge offenlegen (»Ich denke jetzt gerade darüber nach…«, »Bei dem, was Sie gesagt haben, habe ich ein gutes Gefühl, weil …«), sich genauer nach den Gedanken und Gefühlen des Gegenübers erkundigen und immer wieder überprüfen, ob sie diese richtig verstanden haben. Kreative Spiele, bei denen man wechselseitig übereinander rätselt, machen den Ansatz besonders attraktiv für Familien mit kleinen Kindern (Asen & Fonagy, 2014).