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4.6 Selbst und Abwehr
ОглавлениеRogers hatte das Selbst nach anfänglichem Sträuben im Zeichen des damals hegemonialen Behaviorismus aufgrund der häufigen Verbalisierungen von Wortbildungen mit »selbst« seiner Klienten und Klientinnen in der Therapie schließlich als Konzept übernommen und in seine Theorie integriert. Dabei orientierte er sich an Existenzphilosophen, auf die Studierende ihn aufmerksam machten: »Sie waren überzeugt davon, daß ich das Denken dieser Männer als geistesverwandt ansehen würde, und sie hatten weitgehend recht. Obwohl es vieles in Kierkegaards Werk gibt, das mir gar nichts sagt, gibt es immer wieder tiefe Einsichten und Darlegungen, welche meine Ansicht, die ich gewonnen, aber nie habe formulieren können, aufs schönste ausdrücken (Rogers, 1961/2006, S. 197). Rogers zeigte sich v. a. von den Worten Kierkegaards beeindruckt, dass es für den Menschen darum gehe, »das Selbst zu sein, das man in Wahrheit ist (ebd., S. 127). Vermutlich liegt hier eine der Quellen von Rogers’ zentralem Begriff der Kongruenz (s. o.), wenngleich sein Verständnis von Kierkegaard kaum mit dessen Selbstverständnis übereinstimmt (vgl. u. a. auch Finke, 2004, S. 256).
Rogers’ (1959/2009) Konzeption der Abwehr als »Antwort des Organismus auf Bedrohung«, um »die gegenwärtige Struktur aufrecht zu erhalten« (ebd., S. 36), basierte auch auf Untersuchungen von McCleary und Lazarus (1949) und letztlich auf Freud (vgl. u. a. Pfeiffer, 1981, S. 211). Abwehr ist i. d. R. ein automatischer Vorgang. Nach Rogers kann »der Organismus […] Reize und deren Bedeutung für den Organismus unterscheiden, ohne dass höhere Nervenzentren, die bei Vorgängen im Bewusstsein eine Rolle spielen, beteiligt sind« (Rogers, 1959/2009, S. 31).
Gesprächspsychotherapeuten versuchen zunächst, die feste Selbststruktur und die Abwehr zu verstehen und zu akzeptieren (vgl. u. a. Teusch, 1994, S. 92). Wenn dies gelingt, wird im Verlaufe der Therapie die Selbststruktur aufgelockert, sodass mehr neue Wahrnehmungen und Erfahrungen zugänglich werden. Rogers (1961/2006) bezieht sich bei der Darstellung dieser Phase des Prozesskontinuums auf Sartre: »Das Selbst als Objekt verschwindet mehr und mehr. Das Selbst in diesem Moment ist dieses Gefühl. Das ist ein Sein im Augenblick; hier spielt weniger Selbst-Bewußtheit, sondern hauptsächlich eine reflexive Bewußtheit, wie Sartre es nennt, eine Rolle. Das Selbst ist, subjektiv, in dem Moment der Existenz. Es ist nicht etwas, das man wahrnimmt. Das Erfahren in dieser Phase enthält eine reale Prozeßqualität« (ebd., S. 151; Hervorhebungen von Rogers).
Der Gesprächspsychotherapeut intendiert i. d. R. nicht, etwas bewusst zu machen, sondern dazu beizutragen, etwas bewusst werden zu lassen. »Ziel dieses Verstehens ist zunächst das Präzisieren und Amplifizieren des manifesten Sinns, wodurch der latente Sinn zunehmend deutlicher in Erscheinung tritt« (ebd., S. 266). Die Vorgehensweise Rogers’ lässt sich strukturell betrachtet als minimales Interpretieren i. S. des sogenannten Dialogischen Dreischritts konzeptualisieren, der sich aus Präsentation, Wiedergabe und spontaner verbaler oder nonverbaler Rückmeldung durch den Klienten zusammensetzt, was sich hinsichtlich einer Verbesserung seines Befindens als besonders wirksam erweist (Näheres hierzu in Galliker & Weimer, 2006).