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4.2 Vorstellungsgestalt und Aktualisierungstendenz

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Im Jahre 1959 formulierte Rogers, der Begründer des Personzentrierten Ansatzes und der Gesprächspsychotherapie, auf der Grundlage von Rank, Goldstein, Maslow, Standal und anderen Wissenschaftlern und Psychotherapeuten in seiner theory of therapy eine Therapietheorie, in der die menschliche Welt im Wesentlichen aus der Vorstellungsgestalt und Aktualisierungstendenz besteht ähnlich wie sie in Schopenhauers (1819/1987) Die Welt als Vorstellung und Wille aus der Vorstellung und dem (Lebens-)Wille zusammengesetzt wird (Lukits, 2016).

1. Vorstellungsgestalt: Rogers (1959/2009) verwendet den Begriff Selbstkonzept v. a. dann, »wenn von der Person oder der Sichtweise ihrer selbst gesprochen wird« (ebd., S. 31). Das Selbstkonzept wird als organisierte, in sich geschlossene Gestalt verstanden, die der Gewahrwerdung zugänglich ist (vgl. ebd., S. 31). Diese Wahrnehmungsstruktur setzt sich aus den Wahrnehmungen der Person sowie ihrer Beziehungen zu anderen Personen und zur Außenwelt zusammen. Später wies Rogers ausdrücklich darauf hin, dass man sich das Selbstkonzept »als eine strukturierte, konsistente Vorstellungsgestalt denken (kann)« (vgl. Rogers, 1977/1988, S. 42; Hervorhebung v. M.G.). Die Entwicklung der Selbststruktur betrachtet Rogers (1959/2009) unter dem Titel »Tendenz zur Selbstaktualisierung« i. S. einer Selbstaktualisierungstendenz als jene Erfahrung, in der »sich das symbolisiert, was wir Selbst nennen« (ebd., S. 27).

2. Aktualisierungstendenz: Rogers (1959/2009) bezeichnete mit diesem Terminus »die dem Organismus innewohnende Tendenz zur Entwicklung all seiner Möglichkeiten; und zwar so, dass sie der Erhaltung oder Förderung des Organismus dienen« (vgl. ebd., S. 26). Die ganzheitliche Kraft der Aktualisierungstendenz bezieht sich nicht nur auf die Grundbedürfnisse (nach Luft, Wasser, Nahrung usw.), sondern darüber hinaus auch auf alle anderen Lebensbedürfnisse. Die Aktualisierungstendenz ist für Rogers »das einzige Motiv […], welches in diesem theoretischen System als Axiom vorausgesetzt wird« (vgl. ebd., S. 27).

Verschiedene Autoren und Autorinnen zeigten auf, dass die organismische Perspektive, die Rogers mit seinem Begriff der Aktualisierungstendenz einnahm, mit den ontologischen Elementen von Goldsteins biologischer Konzeption des menschlichen Organismus (bzw. mit dessen »Selbstaktualisierung«) kompatibel ist (vgl. u. a. Crisp, 2018, S. 70). Das heißt: Rogers übernahm von Goldsteins Konzept der Selbstaktualisierung dessen Signifikanten für seinen Begriff der »Vorstellungsgestalt« und dessen Signifikat für seinen Begriff der »Aktualisierungstendenz«.

Bei Rogers geht es wie bei Schopenhauer »um eine grundlegende doppelte Struktur der menschlichen Wirklichkeit und mögliche Zugänge zu ihr« (vgl. Lukits, 2016, S. 63). Zwar finden sich bei Schopenhauer andere Signifikanten (»Vorstellung« und »Wille« i. S. von »Lebenswillen«) als bei Rogers (»Vorstellungsgestalt« und »Aktualisierungstendenz«), doch die Signifikate derselben decken sich weitgehend (vgl. Galliker, 2019). Während für Schopenhauer (1819/1987) das Objekt für das Subjekt ausschließlich in dessen Vorstellung vorhanden ist, wird das Kant’sche »Ding an sich« als »Lebenswille« verstanden (vgl. u. a. Schopenhauer, 1819/1987, S. 392) und als im Wesentlichen organismisch interpretiert (vgl. u. a. auch Schopenhauer, 1844/2005, S. 283 u. S. 459).

Schopenhauer drückte sich zusammenfassend wie folgt aus: »Der Wille ist die Erkenntniß a priori des Leibes, und der Leib die Erkenntniß a posteriori des Willens« (Schopenhauer 1819/1987, S. 164). Demnach nahm schon der deutsche Lebensphilosoph eine folgenreiche Umkehrung vor, die wissenschaftstheoretisch betrachtet einem Paradigmenwechsel gleichkommt: »[Wir] müssen […] die Natur verstehen lernen aus uns selbst, nicht umgekehrt uns selbst aus der Natur« (ebd., S. 258). Das heißt: Dem Menschen ist in einem nicht naturwissenschaftlichen Sinne »ein Blick ins Innere der Natur gestattet; sofern nämlich dieses nichts Anderes, als unser eigenes Inneres ist« (vgl. ebd., S. 461, Hervorhebung i. Org.). Dieser Paradigmawechsel war für die Psychotherapie und insbesondere die humanistische Psychotherapeutie von entscheidender Bedeutung. Er führte schließlich auch in wissenschaftlicher Hinsicht – über Dilthey, der Schopenhauer rezipiert hatte (Kohl & Schubbe, 2018) – zu einem neuen therapierelevanten Theorieverständnis und Forschungsprogramm (Gendlins Process Model und First-Person-Sience).

Wie ist die parallele duale Formierung der Theorien Schopenhauers und Rogers’ historisch zu verstehen? Rogers hat Schopenhauer wahrscheinlich nicht selbst rezipiert, weshalb angenommen wird, dass er über andere europäische Denker und Psychologen von ihm indirekt beeinflusst wurde (vgl. Lukits, 2018, S. 67). Zu den möglichen Mittelspersonen gehört Otto Rank. Rogers (1961/2006) weist ausdrücklich darauf hin, dass er sich mit der Arbeit von Otto Rank befasst hat (vgl. ebd., S. 45).

Für Rank war Schopenhauer sicherlich kein Unbekannter, führte er doch die Protokolle von Freuds »Mittwoch-Gesellschaft«, in denen der Philosoph in den Jahren 1907 bis 1912 insgesamt 30 Mal genannt wurde (vgl. Gödde, 2014/2018, S. 306). Allerdings deckt sich Ranks Willensbegriff nicht mit jenem von Schopenhauer. Rank verwendete den Begriff schließlich als Willen des Kindes gegen die externen und internen »Mächte«, von denen es »getrieben« wird (vgl. u. a. Wyss, 1961/1977).

Rank hat den Widerstand des Patienten als »Eigenwillen« eben dieses und keines anderen Menschen verstanden. »Dieser äußert sich zwar zunächst negativ als ›Gegenwille‹, sei aber in der Therapie zu fördern und zum ›positiven Wollen‹ zu wandeln, das den Patienten zur Autonomie und zur schöpferischen Gestaltung des eigenen Lebens führt« (Pfeiffer, 1981, S. 224; Hervorhebung v. Verf.).

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