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3 Ideengeschichte der Verhaltenstherapie Michael Linden 3.1 Einleitung
ОглавлениеDie wissenschaftliche Psychotherapie nahm ihren Anfang im 17. Jahrhundert mit der Aufklärung und dem Beginn eines anthropozentrischen Weltverständnisses. Im Weiteren wurde dann die Psychoanalyse Ende des 19. Jahrhunderts vor dem ersten Weltkrieg entwickelt mit einem starken Fokus auf der Sexualmoral. Die wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie bzw. klientenzentrierte Psychotherapie begann in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, zwischen den Weltkriegen unter dem Einfluss philosophischer Konzepte des Existentialismus. Die Verhaltenstherapie (VT) begann in den 1950er Jahren nach dem zweiten Weltkrieg mit der Abkehr von philosophischen und politischen Weltanschauungen und dem Versuch einer rationalen und experimentell basierten Psychotherapie, was natürlich ebenfalls eine Weltanschauung ist. Diese experimentell orientierte Grundhaltung hat in der Folge zu einer stetigen Ausweitung der in die VT einfließenden Konzepte geführt, bis zu dem Missverständnis, dass VT mit wissenschaftlich basierter Psychotherapie gleichzusetzen sei, bzw. dass alles was in der Psychotherapie wirksam ist, auch der VT zuzurechnen sei. Davon kann keine Rede sein, da auch die alternativen Psychotherapieverfahren eine wissenschaftliche und auch empirische Basis haben.
Unter dem Einfluss amerikanischer Autoren (Hayes, 2004) hat es sich vielfach eingebürgert von »drei Wellen« in der Entwicklung der Verhaltenstherapie zu sprechen, d. h. der behavioralen, der kognitiven und schließlich einer »dritten Welle«, die sehr heterogene Ansätze umfasst. Es wird diskutiert, inwieweit es sich tatsächlich um Neuentwicklungen handelt oder ob noch von Verhaltenstherapie gesprochen werden kann. Selbst Autoren, die von Hayes (2004) der »dritten Welle« zugeordnet wurden, äußern sich kritisch gegenüber dieser Einordnung, wie z. B. Adrian Wells und Marsha Linehan (Longmore & Worrell, 2007; Heidenreich & Michalak, 2013; Hofmann & Asmundson, 2008; Hofmann, Sawyer & Fang, 2010; Hofmann & Münch, 2013; Ost, 2008).
Bei einer genaueren Betrachtung der historischen Entwicklung der VT, die die Vielfalt der ideengeschichtlichen Einflüsse auf die VT nachzeichnen will, greift das Dreiphasenmodell eindeutig zu kurz (Fiedler, 2014; Linden, 2014). Die VT als Behandlungsmethode war ständig bemüht, das Verständnis psychischer Störungen unter Rückgriff auf die Grundlagenpsychologie zu erweitern und das Spektrum an Interventionsmöglichkeiten zu differenzieren. Auch wenn immer wieder sehr vereinfachend von drei »Wellen« der Verhaltenstherapie zu lesen ist, so lassen sich bei fachgerechter Betrachtung mindestens elf Entwicklungsphasen unterscheiden, die beeinflusst waren von der klassischen Lerntheorie, der operanten Lerntheorie, der Sozialpsychologie, der Attributions- und kognitiven Psychologie, der Emotionspsychologie, der psychopathologisch deskriptiven Differentialdiagnostik, der Entwicklungspsychologie und biologischen Psychologie, oder der Kulturpsychologie. Jede dieser Wellen entstand, um Begrenzungen der bisherigen Entwicklungen zu überwinden. Gleichzeitig wurden die bis dahin erarbeiteten Kenntnisse und Behandlungsformen weiterhin beibehalten und auch stetig noch weiterentwickelt und verfeinert.
Die moderne Verhaltenstherapie hat daher viele Quellen, aus denen sie gespeist wird. Sie ist auch nicht auf einzelne Autoren zu beziehen. Die im Folgenden zitierten Wissenschaftler sind Autoren, die besondere Resonanz fanden, die aber keinen Alleinstellungsanspruch haben und keine »Schulengründer« sind. Sie stehen im Verbund mit vielen anderen Forschern, die zu den selben Themen theoretisch und empirisch gearbeitet haben. Die Verhaltenstherapie ist dennoch ein kohärentes Behandlungsverfahren, da in der Verhaltensanalyse alle diese scheinbar verschiedenen Aspekte zusammenfasst werden und sich letztlich ein überschaubares Set an Basistechniken beschreiben lässt. Es handelt sich daher um ein Psychotherapieverfahren nach der Definition des Wissenschaftlichen Beirats Psychotherapie (WBP, 2019), das einem angehenden Therapeuten in etwa drei bis fünf Jahren vermittelt werden kann, mit einem differenzierten Theoriegebäude und Spektrum an Interventionen, das ermöglicht, die Mehrzahl verschiedener psychischer Störungen evidenzbasiert und erfolgreich zu behandeln.