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4.5 Nachfühlen und Einfühlen
ОглавлениеBereits Schleiermacher (1813/2002) hatte darauf hingewiesen, dass man die Äußerung eines Anderen zuweilen in die eigene Sprache übersetzen (bzw. paraphrasieren) müsse, um sie genauer verstehen zu können (vgl. ebd., S. 67). Später ging er einen Schritt weiter. Schleiermacher (1838/1977) unterschied vom »komparativen Verstehen« (vergleichendes Erschließen eines Sinnzusammenhangs in einem fachspezifischen Kontext) das »dininatorische Verstehen« (bzw. ahnende Verstehen), bei dem intendiert wird, »sich gleichsam in den anderen zu verwandeln« (vgl. ebd., S. 169).
Wilhelm Dilthey, der mit seiner Lebensphilosophie wohl wie kein zweiter Philosoph oder Wissenschaftler die Humanistische Psychologie und Psychotherapie, die Gesprächspsychotherapie und insbesondere Genlins Focusing-oriented psychotherapy beeinflusste (Galliker & Lessing, 2020), verfasste eine großangelegte philosophische Biographie Schleiermachers und war auch ein Kenner der Werke Schopenhauers (vgl. u. a. Kohl & Schubbe, 2018, S. 288). Unter dem elementaren Verstehen verstand er das Verstehen anderer Personen im zwischenmenschlichen Handeln als Nachfühlen frem der Seelenzustände. Dabei gilt es, auf externe Zeichen zu achten, was insbesondere in Bezug auf die Gestalttherapie relevant ist, die entschiedener als die Gesprächspsychologie von der Wahrnehmung ausgeht. »Erst durch den Vorgang der Nachbildung dessen, was so in einzelnen Zeichen in die Sinne fällt, ergänzen wir dies Innere. Alles: Stoff, Struktur, individuellste Züge dieser Ergänzung müssen wir aus der eigenen Lebendigkeit übertragen« (ebd., S. 318). Grundlage der sprachlichen Verständigung ist die Sphäre von Gemeinsamkeit, sind wir doch schon vor allem Wissen und Denken mit anderen (sprachlich) verbunden. »Wir leben in dieser Atmosphäre, sie umgibt uns beständig. Wir sind eingetaucht in sie. Wir sind in dieser geschichtlichen und verstandenen Welt überall zu Hause, wir verstehen Sinn und Bedeutung von dem allen, wir selbst sind verwebt in diese Gemeinsamkeiten« (Dilthey, 1910/1965, S. 147).
Der Verstehende versetzt sich in die persönliche Welt des Anderen hinein, die sich primär verbal, aber auch paralingual und nonverbal kundtut. Diese Transposition erfolgt indes immer im Bewusstsein einer gewissen Distanz, die es unbedingt zu wahren gilt. Es handelt sich um einen Perspektivwechsel, bei dem es nicht nur um ein emotionales Verstehen, ein intuitives Erspüren und erahnendes Mitschwingen geht, sondern zugleich auch um ein Verständnis der phänomenalen Welt des Gegenübers, um dessen persönliche Sinnzusammenhänge, wobei den Ausführungen eines Gegenübers ohne die eigene Position aufzugeben solange Vollkommenheit unterstellt wird, bis man trotz aller Bemühungen zum Ergebnis gelangt, dass die Barrieren der Verständigung nicht auf Seiten des Rezipienten liegen. Durch das kontextuelle und sprachliche Innewerden wird indes noch vor der Subjekt-Objekt-Unterscheidung eine vordiskursive Schicht freigelegt, das heißt, eine Schicht des unmittelbaren, organismischen Erlebens, in der etwas realisiert wird, ohne dass es schon gegenständlich wird (vgl. Dilthey, 1910/1965, S. 139).
Noch mehr als für das elementare Verstehen interessierte sich indes Dilthey für das sogenannte höhere Verstehen, das sich aufgrund der Vorarbeiten der Völkerpsychologen Lazarus und Steinthal mit den (insb. geistigen) Objektivationen, Werken, Überlieferungen befasst (vgl. u. a. Galliker, 1993). Bei diesem Verstehen geht es darum, dass eine Person durch ihre plastische Kraft Gegenstände aufzufassen und zu verlebendigen sucht (vgl. u. a. Rodi, 2011, S. 108). Cohns (1975/2000) humanistisches Programm der Themenzentrierten Interaktion müsste auf der Grundlage dieses interpersonalen-gegenständlichen Ansatzes diskutiert werden.
Rogers, der sich intensiv mit der Lebensphilosophie auseinandergesetzt hat (vgl. u. a. Lukits, 2016, S. 67), verwendete in seiner »Theory of Therapy« zunächst den Begriff Empathie: »Empathisch zu sein bedeutet, den inneren Bezugsrahmen des anderen möglichst exakt wahrzunehmen, mit all seinen emotionalen Komponenten und Bedeutungen, gerade so, als ob man die andere Person wäre, jedoch ohne jemals die ›als ob‹-Position aufzugeben« (Rogers, 1959/2009, S. 44). In Therapeut und Klient führte Rogers (1977/1988) auch das Konzept des Einfühlenden Verstehens an, durch das der Therapeut in der Welt des Klienten (wie) zu Hause ist. »Es ist ein unmittelbares Gespür im Hier und Jetzt für die innere Welt des Klienten mit ihren ganz privaten personalen Bedeutungen, als ob es die Welt des Therapeuten selbst wäre […]« (ebd., S. 23). Zwar brachte auch schon Dilthey Mitfühlen und auch Einfühlen mit dem Verstehen in Verbindung (vgl. Scholz, 2011, S. 96), doch das Konzept des »einfühlenden Verstehens« verwendete er noch nicht und einer »Einfühlungstheorie« gegenüber blieb er weitgehend indifferent (vgl. Rodi, 2011, S. 107).
Nach Rogers’ (1959/2009) »Theorie der Therapie« sind seitens des Gesprächspsychotherapeuten die Kongruenz in der Beziehung, die Azeptanz und die Empathie die wesentlichen Bedingungen des therapeutischen Prozesses (vgl. ebd. S. 46). Nach der neueren Therapieforschung, die nicht mehr ausschließlich auf die Symptomatik und besondere Therapieverfahren zentriert ist und den Einfluss der Person des Psychotherapeuten einbezieht, übersteigen die »Therapeuteneffekte« i.A. die »Behandlungseffekte« (vgl. u. a. Wampold, Imel & Flückiger, 2015, S. 228). Demnach gehören Rogers’ »Bedingungen« zu den sog. »kontextuellen Faktoren«, die noch am deutlichsten mit dem Therapieergebnis zusammenhängen. »Unter solch kontextuellen Faktoren verstehen die Autoren Variablen wie die psychotherapeutische Allianz (d. h. die Qualität der Arbeitsbeziehung), Empathie, andere wesentliche Beziehungscharakteristika wie etwa Wertschätzung oder Echtheit« (Strauß, 2019, S. 5).