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4.3 Kongruenz und Inkongruenz
ОглавлениеNach Rogers’ dualem System, das Lukits (2016) als parallel gelagerte Strukturen oder »Ebenen« auffasste (vgl. ebd., S. 70), können Aktualisierungstendenz und Selbstaktualisierungstendenz übereinstimmen: Der Zustand der Kongruenz ist erreicht, wenn es dem Individuum gelingt, sein Selbstverständnis entsprechend seiner Erfahrung zu realisieren respektive wenn vom Individuum die Selbsterfahrungen in »exakt symbolisierten Formen in das Selbstkonzept integriert werden« (vgl. Rogers, 1959/2009, S. 38).
Aufgrund der relativen Autonomie der Aktualisierung des Selbst kommt es jedoch unter weniger günstigen Umständen und insbesondere Bewertungsbedingungen zu einer Differenz der beiden Tendenzen und damit zu einer Inkongruenz von wahrgenommenem Selbst und organismischem Erleben bzw. zu einer inadäquaten Symbolisierung der vollständigen Erfahrung. Nach Lukits (2018) handelt es sich bei der Inkongruenz um eine »Diskrepanz zwischen einer organismischen Erfahrung und bewusstem Erleben« (vgl. ebd., S. 118). Die aktualisierten Strukturen der Erfahrung und des Selbst folgen dann teilweise Eigendynamiken, sodass das Individuum seine eigenen Erfahrungen nicht versteht bzw. sein Verhalten in diesen Aspekten unverständlich wird (vgl. Kriz & Stumm, 2003, S. 19).
Nach Rogers (1961/2006) gelangt i. S. seines Prozesskontinuums der Klient im Verlaufe einer erfolgreichen Gesprächspsychotherapie von der Inkongruenz zur Kongruenz bzw. »Echtheit« (vgl. ebd., S. 135–162). Erfahrungen, die von einer Person ursprünglich nicht als Selbsterfahrungen wahr- und/oder angenommen werden können und deshalb von ihr nur in verstellter Form symbolisierbar sind, werden im Verlaufe des therapeutischen Prozesses zugänglich, akzeptiert und symbolisiert. Indem eine Person versucht, diese Erfahrungen in das bestehende Bild von sich selbst zu integrieren, wird auch ihr bisheriges Selbstbild umstrukturiert. Schließlich gelangt die Person zu einer neuen Unmittelbarkeit des Erfahrens, bei dem sich Erkenntnis und Gefühl durchdringen. »Der Mensch [wird] eine Einheit des Flusses, der Bewegung. Er hat sich geändert; was jedoch am bedeutsamsten sein mag: Er wurde zu einem zusammenfassenden Prozeß der Veränderungen« (ebd., S. 162). Schließlich wird das Selbst (auf der sechsten Stufe des Prozesskontinuums) als Objekt aufgelöst (vgl. auch Klein, le Coutre, & Galliker, 2018).
Nach Keil (1997) nimmt der Therapeut wahr, wo er allenfalls mit dem Klienten nicht übereinstimmt. Anzeichen hierfür ist, wenn der Therapeut den Klienten nur unzureichend versteht und/oder ihm nicht genügend Akzeptanz entgegenbringen kann (s. u.). Der Therapeut erspürt das inkongruente Selbst des Klienten und dessen Bedingungszusammenhang, und damit eröffnet er sich und in der Folge auch dem Klienten den »Horizont der Kongruenz« (vgl. ebd., S. 11). Dies erfolgt aber nur, wenn der Therapeut in seinem Nicht-Akzeptieren und Nicht-Verstehen selbst kongruent ist. »Resultieren seine Reaktionen aus seiner eigenen Inkongruenz, dann enthalten sie keinen Hinweis auf die Problematik des Klienten, sondern verweisen auf seine eigene« (ebd., S. 10). Im Weiteren weist Keil darauf hin, dass neben dem inkongruenten Nicht-Akzeptieren und Nicht-Verstehen auch das inkongruente Akzeptieren und Verstehen existiert, wofür gerade auch Gesprächspsychotherapeuten und -therapeutinnen anfällig seien. »Es werden ja von dieser Therapierichtung Personen angezogen, für die Akzeptieren und Verstehen von besonderer Bedeutung sind« (ebd., S. 12).