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Drei persönliche Szenen zu Beginn

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Mitte November, unmittelbar vor dem November-Lockdown im Corona-Jahr 2020, gehe ich durch die Linzergasse in Salzburg. Es ist Nachmittag, ein wenig dämmrig wird es schon. Ich bin gedankenverloren, ist doch noch einiges zu erledigen, wer weiß, wie lange die Geschäfte noch offen haben. Mich irritiert diese Zeit, in der viele Menschen mit Mund-Nasen-Schutz, manche auch ohne, eiligen Schrittes unterwegs sind, geradeaus schauen, einander ausweichen. Plötzlich fällt mein Blick auf ein Grablicht, daneben liegen Blumen. Und erst auf den zweiten Blick der Stolperstein. Ach ja, Gedenken an das Novemberpogrom! Da sind also Menschen in dieser seltsamen Zeit durch die Gasse gegangen, mit Blumen und Kerzen, haben sich hinuntergebeugt zu einem Stolperstein nach dem anderen. Diese Erinnerung an Menschen, die in der Shoah verschleppt und ermordet wurden, berührt mich in dieser Zeit ganz besonders. Sie reißt mich heraus aus der bedrückenden Gegenwart und lenkt meine Gedanken in eine noch viel bedrückendere Vergangenheit. Und ich frage mich, was ist das nun, das mir so nahe geht? Dass es Menschen gibt, die sogar in diesen Zeiten auf die Ermordeten der Vergangenheit hinweisen wollen? Dass ich wieder einmal daran denke, wie viele Menschen im Holocaust ihres Lebens beraubt wurden? So viele nicht zu Ende gelebte Leben! Oder ist es diese verstörende Zeit, in der ich momentan lebe, in der sich so seltsame, beängstigende Phänomene verbreiten – antisemitische Verschwörungstheorien, demokratiegefährdende Gedankenwelten, Wissenschaftskritik auf niedrigstem Niveau, krude Vergleiche von sogenannten „Querdenkerinnen und Querdenkern“ mit der NS-Zeit. Dazu eine Wirtschaftskrise, die noch keiner abschätzen kann. Und der pandemische Druck, der Menschen in die Isolation, in den Rückzug und in die Vereinzelung zwingt. Es ist mein emotionales Fenster, das für die Erinnerung an die Opfer der NS-Zeit gerade besonders weit geöffnet ist.

Szenenwechsel. Juli 2016, ich sitze im Seminarraum in Yad Vashem. Noa Mkayton, Leiterin des European Departments, erzählt über Rachel Auerbach, die 1946 davon sprach, dass es nationale Pflicht der Juden sei, die Wahrheit zu kennen und dass es außerdem deren Aufgabe sei, die Wahrheit auch den Nicht-Juden zu vermitteln. Sie hatte gemeinsam mit dem jüdischen Historiker Emanuel Ringelblum im Warschauer Ghetto ein Geheimarchiv zu jüdischem Leben angelegt und konnte es für die Nachwelt erhalten. Dieser historische Auftrag, das Wissen über jüdisches Leben und über das, was in der NS-Zeit geschehen ist, zu überliefern, trifft mich. Gibt es diesen gesellschaftlichen Auftrag, wirklich zu wissen, was in der NS-Zeit passiert ist, hierzulande auch? Das würde ja auch zwingend bedeuten, dass schonungslos offenzulegen ist, wer was getan hat. Täterforschung wäre das. Wer wovon wissen musste. Wer wovon profitiert hat. Auch wenn spätestens durch die sogenannte Waldheim-Affäre „die seit 1945 mühsam aufgebaute Lebenslüge“ von der Opferthese Österreichs „zerbrach“, wie Embacher und Reiter 1998 schreiben (Embacher, 1998, S. 256), so sind in der Mehrheitsbevölkerung der „Opfermythos“ und auch die Leistungen der erfolgreichen Aufbaugeneration nach 1945 immer noch ungleich stärker präsent als das Bewusstsein darüber, dass wir die Nachkommen der Täterinnen und Täter sind und in einer Tätergesellschaft leben. So schreibt denn auch Margit Reiter in ihrem Buch „Die Generation danach. Der Nationalsozialismus im Familiengedächtnis“, dass das familiäre Tradierungsmuster der Opferschaft immer noch das am stärksten verbreitete sei (Reiter, 2006, S. 48).1 Es gibt einen breiten politischen und gesellschaftlichen Konsens, dass man der Opfer gedenken muss, historisches Wissen aber wird vernachlässigt. Das zeigten nicht zuletzt die unrühmlichen Diskussionen um und die beschränkten Ressourcen im Haus der Geschichte oder auch die Vernachlässigung der Täterforschung.

Noch ein Szenenwechsel. Wieder Juli 2016, im Center for Humanistic Education (CHE) in Lochamej haGeta’ot. David, Israeli, Sohn jüdischer, aus Österreich vertriebener Eltern, und Channan, Palästinenserin mit israelischem Pass, erzählen ihre Geschichten. Beide arbeiten am CHE mit jungen Jüdinnen und Juden, israelischen Palästinenserinnen und Palästinensern sowie mit Drusinnen und Drusen. Sie sitzen kollegial und wertschätzend nebeneinander und erzählen nacheinander ihre unterschiedlichen Familienerinnerungen an den Kibbuz – für David ist es ein mühsam aufgebautes neues Zuhause der Eltern nach der Flucht vor dem Holocaust, der von der syrischen Armee im Unabhängigkeitskrieg zerstört und von den Kibbuzim erneut aufgebaut wurde, Channan verbindet den Kibbuz in ihrer Nachbarschaft mit gewaltsamer Aneignung von Grund und Boden, mit der Vertreibung von arabischer Bevölkerung aus dem Nachbardorf, mit dem Trauma der „Nakba“ („Katastrophe“). Diese Existenz zweier unterschiedlicher Narrative, die hier so augenscheinlich nebeneinander existieren und an diesem besonderen Ort gleichberechtigt erzählt werden, beeindruckt mich sehr. Ähnlich ergeht es mir zwei Tage später, als die Jugendlichen, die hier Seminarreihen besuchen, aus ihrem Leben erzählen und davon, dass sie an diesem geschützten Ort erstmals die jeweils andere Perspektive hörten und erzählten.

Warum beschreibe ich diese drei Episoden? Was haben sie miteinander zu tun? Eine Antwort werde ich am Ende dieses Beitrags versuchen. Schauen wir aber zuerst in die schulische Realität.

Nationalsozialismus und Holocaust – Materialien, Zeitzeugen und Orte der Erinnerung in der schulischen Bildung

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