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B. „Da weiß ich selbst zu wenig“

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„Warum über Nationalsozialismus und Holocaust unterrichten?“ lautete die Ausgangsfrage bei den zuvor erwähnten Fortbildungs-Workshops für Lehrende an Berufsschulen. Meist folgte darauf auf unterschiedliche Weise ein Eingeständnis, dass das Unterrichten eines so komplexen, vielleicht als heikel empfundenen Themas verunsichern kann. Die Unsicherheit bezog sich dabei auf das eigene historische Wissen, aber auch auf den Umgang mit den Fragen, Überlegungen und Zugängen der Jugendlichen. In diesem Kontext gilt es zu bedenken, dass der Geschichteunterricht der Lehrenden zu einer Zeit stattfand, als von Kompetenzorientierung und Schülerzentrierung in der Geschichtsdidaktik noch keine Rede war. Das trifft im besonderen Maß auf Lehrende in Berufsschulen zu, die meist nach langjähriger Berufserfahrung quer in die Lehrtätigkeit einsteigen.

Der Geschichtsunterricht, den die meisten von ihnen in den 1980er- oder 1990er-Jahren erfuhren, bestand aus historischen Daten und Fakten und diente der nationalen Identitätsstärkung und Selbstvergewisserung. Wenn der Nationalsozialismus im Geschichtsunterricht dieser Zeit ein Thema war, dann in Verbindung mit dem Appell des „Nie wieder“, der Mahnung, sich zu erinnern und der Pflicht, die richtigen Lehren aus den Schrecken der NS-Herrschaft zu ziehen. Diese Art des mahnenden Erinnerns war getragen von den Erfahrungen der Opfer des Nationalsozialismus, der Überlebenden der Konzentrationslager und jener, die Widerstand geleistet hatten. Die Adressatinnen und Adressaten dieses Unterrichts waren Jugendliche, deren Großeltern (und vielleicht sogar Eltern) die NS-Zeit erlebt hatten. Der Geschichtsunterricht trat dabei in Wechselwirkung mit Erzählungen aus der eigenen Familiengeschichte, war vielleicht ein Korrektiv und auf jeden Fall ein institutioneller Beitrag zu einer sehr präsenten gesellschaftlichen Debatte. Die Appelle, Mahnungen und zu ziehenden Lehren repräsentierten in dieser Debatte jene, die die Verfolgung durch den Nationalsozialismus erlebt und überlebt hatten. Die Erfahrungen der meisten gegenwärtigen (Berufsschul-)Lehrerinnen und -lehrer mit der Vermittlung des Nationalsozialismus stammen aus jener Zeit. Dreißig bis vierzig Jahre später ist die Erinnerung an den Nationalsozialismus weitgehend erkaltet und hat fixierte Formen angenommen. Aus einer kritischen Auseinandersetzung, die in der eigenen Familie begann und sich auf die gesamte Gesellschaft erstreckte, wurde ritualisiertes, staatstragendes Gedenken. Für viele Jugendliche heute ist der Nationalsozialismus so weit weg wie das Habsburgerreich, Napoleon oder der 30-jährige Krieg – vor allem bei jenen, die nur wenig Gelegenheit hatten, sich mit Geschichte zu beschäftigen und entsprechende Kompetenzen zu entwickeln. Die Appelle und moralischen Forderungen der Lehrenden bleiben – ohne das entsprechende Vorwissen und einen Bezug zum eigenen Leben – leere Hüllen und stoßen als solche oft auf Ablehnung. Die gesellschaftliche Auseinandersetzung zu Nationalsozialismus und Erinnerungskultur werde – vor allem aus der Perspektive jener, die sich aus gesellschaftlichen und politischen Diskussionsprozessen als ausgeschlossen wahrnehmen – ohnehin von Expertinnen und Experten geführt. Wird ein „richtiges“ Verständnis vom Nationalsozialismus dann noch als „Schlüssel“ zur Zugehörigkeit zur Mehrheitsgesellschaft vermittelt, ist es wenig verwunderlich, dass Jugendliche diese Auseinandersetzung unter den Voraussetzungen dieser starken Aufladung verweigern (Georgi, 2009).

Dazu kommt, dass der den Jugendlichen unterstellte Unwillen, sich mit Zeitgeschichte auseinanderzusetzen, oft bei den Lehrenden zu finden ist: Die Abwehr von Auseinandersetzung mit historischer Schuld und Verantwortung des eigenen Wir-Kollektivs ist unter Lehrenden genauso verbreitet wie im gesellschaftlichen Durchschnitt. Hier ist verstärkt die Ausbildung und Fortbildung von Lehrerinnen und Lehrern gefragt. Die Ausbildung von Lehrenden an Berufsschulen unterscheidet sich in einigen wichtigen Punkten von anderen Lehramtsstudien. Stefan Schmid-Heher etwa problematisiert, dass Studierende des Lehramts für Berufsschule am Beginn der Ausbildung bereits eine mindestens einjährige, nicht professionell begleitete Unterrichtserfahrung mitbringen und dass auch nach absolvierter Ausbildung das Unterrichten in Fächern, für welche die Lehrperson eigentlich keine Ausbildung hat, weit verbreitet sei. Dies begünstige ein „handwerklich-praktisches“ Theorie-Praxis-Verständnis und erschwere die Selbstreflexion der Lehrerinnen und Lehrer (Schmid-Heher, 2019, S. 107). Im Bereich der Fortbildung äußert sich dieser Umstand bedauerlicherweise immer wieder darin, dass Seminare zur historisch-politischen Bildung, wenn sie speziell für Lehrende aus dem Berufsschulbereich angeboten werden, nicht zustande kommen. Um genügend Lehrkräfte zur Teilnahme an einem solchen Seminar zu motivieren, braucht es klaren Rückhalt aus dem auf Landesebene organisierten Berufsschulsystem, etwa Direktorinnen und Direktoren, die den Lehrenden an ihren Schulen die Teilnahme an einem bestimmten Seminar nahelegen.

Nationalsozialismus und Holocaust – Materialien, Zeitzeugen und Orte der Erinnerung in der schulischen Bildung

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