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Herausforderungen in der Schule

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Unterricht über Nationalsozialismus und Holocaust wird vielfach mit einem Gedenkstättenbesuch in Verbindung gebracht; dabei stehen die zentralen Verbrechensorte im Fokus. Sie sind die wichtigsten Erinnerungsorte an die NS-Zeit in der öffentlichen Wahrnehmung. In Österreich ist das vor allem die Gedenkstätte Mauthausen. Die meisten Lehrenden, die an den Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen von _erinnern.at_ teilnehmen, haben mit ihren Schülerinnen und Schülern bereits die Gedenkstätte besucht und nehmen dazu oft weite Anreisezeiten in Kauf, womit relativ hohe Fahrtkosten für die Jugendlichen verbunden sind. Die Motive für die Exkursion nach Mauthausen sind vielfältig: So wird das ehemalige Konzentrationslager als „authentischer Ort“ gesehen, als Tatort des Holocaust. Dementsprechend aufgeladen ist die Begegnung mit dem Ort für viele: Auf dem Appellplatz standen die Opfer, in den Baracken mussten sie auf engstem Raum zusammengepfercht schlafen, in der Kommandantur waltete die SS ihres Amtes und ging außerhalb der Lagermauern ihren Vergnügungen nach. Die Stiege führte zum Steinbruch hinunter, die Häftlinge wurden für den Arbeitseinsatz hinunter- und hinaufgetrieben, gedemütigt und gequält. Und dann der Blick in die Gaskammer und das Krematorium. Hier wurden Menschen vergast und verbrannt. So also muss es damals gewesen sein. Und doch ist heute nichts mehr so, wie es damals war.

Immer noch sagen viele Lehrkräfte, sie würden mit ihren Schülerinnen und Schülern in das „KZ“ fahren, manche reagieren irritiert auf den Hinweis, dass es kein KZ mehr ist, sondern längst eine Gedenkstätte. Und Jugendliche wundern sich oft, dass sie an Ort und Stelle nicht nachempfinden können, was die eingesperrten Menschen damals erlebt und erlitten haben, einige haben deswegen sogar ein schlechtes Gewissen – zumal, wenn das Wetter schön ist und die sanften Hügel des Mühlviertels sich im Licht der Jahreszeiten von ihrer besten Seite zeigen. Aus diesem Grund ziehen es manche Lehrpersonen vor, mit ihren Schulklassen in der kalten Jahreszeit nach Mauthausen zu fahren, damit die Schülerinnen und Schüler wenigstens die Kälte spüren, den eiskalten Wind, der ihnen in die Knochen fährt.

Dahinter liegt ein zentrales und ehrenwertes Anliegen vieler Lehrpersonen: Jüngere Generationen müssen aufgeklärt und daran erinnert werden, was hier passiert ist. Und dieses Erinnern muss an das Empfinden der verfolgten und vielfach vernichteten Menschen anknüpfen. Das Geschehene können wir nicht mehr rückgängig machen, aber über das Unrecht sprechen, es ins Bewusstsein der nächsten Generation(en) weitertragen, Empathie für die gequälten Menschen wecken, das können und müssen wir. Denn wenn es die Jungen nicht mehr erfahren, vergisst das ganze Land.

Bei manchen Jugendlichen kommt genau diese Lernerfahrung an. Sie reagieren sehr sensibel, rufen an diesem historischen Ort Bilder und individuelle Schicksale aus Filmen oder Büchern ab, die sie über den Holocaust gelesen oder gesehen haben und sind zutiefst berührt, in ihrer Emotion oftmals überfordert. Andere aber – und es werden immer mehr – können diese Verbindung nicht (mehr) herstellen. Zu weit weg ist die Geschichte von ihrem Leben, mittlerweile ist es bereits die vierte Generation, die im Unterricht diese Geschichte lernt. Darüber hinaus stammen viele Schülerinnen und Schüler aus Elternhäusern oder Ländern, die gar keinen Bezug zum Thema oder aber einen völlig anderen Blick auf den Zweiten Weltkrieg, auf den Nationalsozialismus sowie auf Jüdinnen und Juden haben. In den Familien der Jugendlichen in der Schule spielen oft andere Verfolgungsgeschichten eine Rolle – offen oder verdrängt. So schreibt Omar Khir Alanam, der als Geflüchteter nach Österreich kam:

„[…] das Geschichtsbild der Syrer ist ohnehin ein anderes, als man es sich hier vorstellen kann: Denn in den Schulbüchern, die Diktator Assad freigibt, wird behauptet, Hitler habe im Ersten Weltkrieg die Gräueltaten der Juden miterlebt und darum habe er sein Volk später vor ihnen schützen wollen. Dass er in Wahrheit sechs Millionen Juden grausam ermorden ließ, habe ich – ob Sie es glauben oder nicht – tatsächlich erst in Österreich erfahren.“ (Alanam, 2020, S. 10)

Viele Jugendliche fragen sich, warum sie Mitgefühl für Menschen empfinden sollen, die schon so lang tot sind, mittlerweile wären ohnehin schon fast alle auch eines natürlichen Todes gestorben. Sie können ja nicht mit allen Verfolgten und Ermordeten der Geschichte empathisch sein. Die Verfolgten, die Kriegsopfer, die Leidenden der Gegenwart empfinden sie als näher oder diejenigen aus ihrer Heimat oder der Heimatregion ihrer Eltern. Dazu Bernadette Edtmaier, die eine Studie zum Antisemitismus unter österreichischen Jugendlichen verfasst hat:

„Manche MuslimInnen, die aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit diskriminiert werden, solidarisieren oder identifizieren sich auf Basis ihrer gemeinsamen Religion mit der Seite der PalästinenserInnen, die als muslimische Opfer schlechthin gelten. ‚Die‘ Israelis auf der anderen Seite werden zum Feindbild. Um den Feind zu diskreditieren, wird die Situation der PalästinenserInnen immer wieder mit dem Holocaust verglichen und teilweise sogar gleichgesetzt.“ (Edtmaier, 2019, S. 159)

Bettina Alavi spricht von einer möglichen „Erinnerungskonkurrenz“, die Jugendliche mit Migrationshintergrund im Zusammenhang mit dem Unterricht über Nationalsozialismus und Holocaust erleben können. Warum beispielsweise nicht über die „Nakba“ sprechen, wenn über das Leiden der Juden so viel geredet wird? (Alavi, 2013, S. 80f.)

Lehrende, die mit ihren zunehmend heterogenen Schulklassen über Nationalsozialismus und Holocaust sprechen oder Gedenkstätten besuchen, befinden sich in einem Spannungsfeld zwischen persönlicher Betroffenheit von der Thematik, ihrem pädagogischen Auftrag, den völlig unterschiedlichen Reaktionsmustern ihrer Schülerinnen und Schüler sowie der gesellschaftlichen Erwartung, die einem Gedenkstättenbesuch zugeschrieben wird. Wenn etwa Staatssekretärin Karoline Edtstadler sagt, sie habe

„[…] das Ziel ausgegeben, dass jeder Schüler einmal in seiner Schulzeit, aber auch alle Migranten und Asylwerber, die neu in Österreich sind, die KZGedenkstätte Mauthausen besuchen sollen. Das kann z. B. im Rahmen der Wertekurse erfolgen. Nur so kann eine Aufklärung über die schrecklichen Ereignisse erreicht werden“. (Kleine Zeitung, 2. Mai 2019)

Auf diese Weise schreibt sie dem Besuch der Gedenkstätte Mauthausen eine überbordende Bedeutung zu, steht die Forderung doch im Zusammenhang mit den Ergebnissen einer Studie,2 die weitgehendes Unwissen von Jugendlichen über Nationalsozialismus und Holocaust zutage förderte. Der Besuch der Gedenkstätte, so könnte man den Schluss ziehen, würde die Wissenslücken schließen. Wer „einmal in seiner Schulzeit“ oder im Rahmen des „Wertekurses für Asylwerberinnen und -werber sowie Migrantinnen und Migranten“ nach Mauthausen kommt, der oder die müsste also verstehen. Wie Schuppen würde es ihm oder ihr von den Augen fallen.

Lehrende aber wissen, dass dem nicht so ist. Die verbliebenen Baracken sind leergeräumt und renoviert, der Appellplatz ist asphaltiert, alles dort ist ruhig und friedlich. Ein Ort also, der nur etwas bedeutet, wenn man die Geschichte bereits kennt, wenn man weiß, wofür er steht. Und es stellt sich die Frage, ob die Bedeutung über die Emotion kommen soll. Ich frage mich darüber hinaus: Welche „Werte“ wollen wir als Tätergesellschaft an junge Migrantinnen und Migranten vermitteln, wenn wir sie in die Gedenkstätte Mauthausen bringen? Unsere? Indem wir ihnen dort vermitteln, was unsere Vorfahren getan haben? Dann müsste die Herangehensweise ja die sein, zu sagen: Schaut her, das haben unsere Vorfahren Jüdinnen und Juden, der Zivilbevölkerung und Kriegsgefangenen aus anderen Ländern, politischen Gegnerinnen und Gegnern, Roma und Sinti, Homosexuellen und Menschen angetan, die als „asozial“ oder als „Verbrecherinnen und Verbrecher“ eingestuft wurden. Wir haben daraus gelernt und bitten euch, unsere Lektion gleich mitzulernen. Ob das von der Staatssekretärin so gemeint war?

Wenn Lehrpersonen an Erinnerungsorte gehen, tun sie das gleich wie alle anderen Besucherinnen und Besucher stets als Individuen mit ihrer eigenen Geschichte, Sozialisation, Vorerfahrung, Einstellung, oft auch mit ihrer Betroffenheit. Doch gleichzeitig stehen sie dort als Pädagoginnen und Pädagogen: Sie haben Lehrpläne im Kopf, Kompetenzen, die sie entwickeln sollen, sie haben eigene inhaltliche Anliegen und wissen auch um ihren gesellschaftlichen Auftrag. Sätze wie den vielfach zitierten „Ihr seid nicht verantwortlich für das, was geschah. Aber dass es nicht wieder geschieht, dafür schon.“, der vom Holocaust-Überlebenden Max Mannheimer stammt, empfinden viele Lehrpersonen als Appell, und wenn sie den Jugendlichen im Klassenzimmer gegenüberstehen, auch als Überforderung – ebenso wie Adornos „allererste Forderung an Erziehung“ aus dem Jahr 1966, „dass Auschwitz nicht noch einmal sei“. (Adorno, 1970, S. 92) Die Unterrichtsrealität behindert oder erschwert dieses Anliegen in verschiedenster Weise. Melisa Erkurt, selbst als bosnisches Flüchtlingskind nach Österreich gekommen, reflektiert in ihrem Buch „Generation Haram“ über ihre Unterrichtserfahrungen:

„Jugendliche haben oft ziemlich steile Ansichten, die man als Erwachsene so gar nicht teilt. Argumente, für die man andere schnell einmal verurteilen würde – aber Schülerinnen und Schüler sollte man in einer Diskussion, vor allem als Pädagogin, nicht vor den Kopf stoßen. Selbst wenn sie Aussagen tätigen, die man zu hundert Prozent ablehnt und sogar als gefährlich einstufen könnte, wie zum Beispiel, dass der Islamische Staat gerecht ist, Nazis nur besorgte Bürger waren […]. Als Lehrperson darf man seinen Schülerinnen und Schülern die eigene Meinung nicht aufzwingen, aber man soll demokratie- und menschenfeindliche Thesen auf keinen Fall einfach stehen lassen. Man darf die Kinder und Jugendlichen aber auch nicht dafür verurteilen, sondern muss sich alles anhören und ruhige, nicht vorwurfsvolle Fragen stellen, bei deren Beantwortung der Schüler oder die Schülerin im besten Fall selbst bemerkt, dass das keinen Sinn ergibt, was er oder sie da sagt.“ (Erkurt, 2020, S. 152)

Erkurt, so meine ich, schreibt hier vielen Lehrenden aus der Seele, indem sie zentrale innere und äußere Konflikte auf den Punkt bringt: Viele Äußerungen von Jugendlichen lösen unweigerlich einen Abwehrreflex aus, weil sie äußerst problematische politische Positionen offenlegen, die man den jungen Menschen auf der Stelle austreiben möchte. Lehrpersonen reagieren häufig mit Argumenten, berufen sich auf Verbotsgesetz und Menschenrechte. Schülerinnen und Schüler ihrerseits reagieren, wenn sie sich trauen, provokant: Menschenrechte? Gesetze? Wer sagt, dass die alle für immer gelten müssen? Haben auch nur Menschen gemacht. Und überall gibt es andere Gesetze. Wegargumentieren geht also kaum. Verbieten kann man – wenn überhaupt – nur die Äußerung der Gedanken, aber nicht die Gedanken selbst. Erkurt geht in ihrer Beobachtung offenbar davon aus, dass Jugendliche derartige Äußerungen tätigen, ohne ideologisch gefestigt zu sein. Dass sie Sätze nachplaudern, die sie in verschiedenen Foren hören oder lesen, vielleicht provozieren wollen und dass man sie durch geschicktes Hinterfragen ihrer Positionen zum Nach- und letztlich Umdenken bringen kann. Damit hat sie wahrscheinlich in vielen Fällen recht. Und anknüpfend an die Schilderung aus Lochamej haGeta’ot wäre zu fragen: Magst du erzählen, woher du diese Gedanken hast? Wer erzählt dir das? Was möchtest du damit sagen? Worum geht es dir, wenn du solche Aussagen machst? Diese Art der Auseinandersetzung braucht Zeit, Lehrpersonen bewegen sich aber in einem Rahmen von getakteten Unterrichtsstunden und vielen Anforderungen, die das Unterrichtsgeschehen und die handelnden Personen vor sich hertreiben. Ein weiteres Problem, das viele Lehrpersonen beschreiben, ist die Gleichgültigkeit dem Thema gegenüber, eine Übersättigung, die viele Jugendliche artikulieren. In einem Interview von ZEIT ONLINE mit zwei deutschen Lehrern beschreiben diese eine „Holocaust-Müdigkeit“ ihrer Schülerinnen und Schüler: Der erste Lehrer sagt, „Aber den Holocaust und Nationalsozialismus wollen die Schüler im Unterricht nicht gerne behandeln.“ Und der zweite: „Stimmt. Wenn ich im Pädagogikunterricht sage, wir schauen uns jetzt die Erziehung im Nationalsozialismus an, dann heißt es: Schon wieder Holocaust? Das machen wir schon in Geschichte und in Deutsch. Zu den Schülern sage ich dann: Glaubt ihr denn, ihr wisst schon alles? Und dann stellt sich raus, dass sie noch sehr unsicher sind.“ Als der Journalist die beiden fragt, ob nur die Schüler unsicher seien, antwortet einer: „Nein, auch die Lehrer trauen sich oft nicht, offensiv mit dem Thema umzugehen. Sie haben Angst, dass sie auf bestimmte Argumentationsmuster nicht reagieren können.“ (Zeit ONLINE, 2018, 3/4) Über ähnliche Erfahrungen berichten auch österreichische Lehrerinnen und Lehrer in den Vorbereitungsseminaren für die Israelreisen. Jugendliche, die „nicht schon wieder“ über Antisemitismus, Holocaust, „die Juden“ reden wollen, verunsichern die Lehrpersonen in ihrem Unterricht über das Thema. Demgegenüber stehen Beobachtungen von Lehrenden und auch Studien, die belegen, dass Schülerinnen und Schüler durchaus interessiert am Zweiten Weltkrieg, am Nationalsozialismus und am Holocaust sind, wenn der Unterricht interessant für sie ist.3

Zusammenfassend lassen sich drei zentrale Herausforderungen beschreiben, mit denen viele Lehrerkräfte in die Fortbildungsveranstaltungen zu Nationalsozialismus und Holocaust kommen:

– Das Gefühl von Überforderung aus inhaltlichen Gründen, aber auch aufgrund des großen Verantwortungsgefühls für das Thema.

– Die Enttäuschung darüber, dass sie ihre Schülerinnen und Schüler mit ihrem Unterricht nicht erreichen können, dass diese dem Thema Nationalsozialismus und Holocaust generell, aber insbesondere auch den Gedenkstätten mit großer Distanz gegenüberstehen und sich kaum darauf einlassen, weil sie sich übersättigt fühlen, weil sie eine große zeitliche Distanz spüren oder weil sie die industrielle Vernichtung der Juden in Europa nicht als ihre Geschichte sehen.

– Die Konfrontation mit Jugendlichen, die mit „problematischen“ Äußerungen zu Nationalsozialismus und Holocaust verunsichern und irritieren.

Die Lehrpersonen, die an Fortbildungsveranstaltungen von _erinnern.at_ teilnehmen, ob an den Pädagogischen Hochschulen in den Bundesländern, am Zentralen Seminar oder aber auch an den Lehrgängen, die sie an Erinnerungsorte nach Israel führen, eint die Überzeugung von der Wichtigkeit des Themas. Entsprechend ihrer oben beschriebenen Erfahrungen formulieren Lehrerinnen und Lehrer ihre Anliegen und Erwartungen. Die meisten sind auf der Suche nach geeigneten Zugängen zum Thema, sie wünschen sich Anregungen, wie sie in ihren zunehmend heterogenen Klassen das Thema behandeln, wie sie die Distanz zum Thema überwinden können, wie sie auf provozierende oder aber auch ideologisch motivierte Äußerungen ihrer Schülerinnen und Schüler angemessen und wirkungsvoll reagieren, wie sie die Jugendlichen auf Gedenkstättenbesuche vorbereiten und diese mit ihnen gut nachbereiten können. Auf den Seminarreisen nach Israel geht es vielen auch darum, „die andere“, also die Opferperspektive kennenzulernen und so die eigene Perspektive zu erweitern.

Nationalsozialismus und Holocaust – Materialien, Zeitzeugen und Orte der Erinnerung in der schulischen Bildung

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