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Die „vergessene Mehrheit“

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Der ehemalige Wiener Landesschulinspektor Hubert Prigl hat Lehrlinge in einem Interview mit dem „Standard“ einmal als eine vergessene Mehrheit bezeichnet (Kapeller, 2010). Im Feld der historisch-politischen Bildung ist das ganz sicher zutreffend. Lehrlinge kommen in diesem Zusammenhang höchstens als Problem vor, als zu wenig historisch gebildet und deswegen anfällig für Autoritarismus, Antisemitismus und menschenfeindliche Ideologien. Als Lösung wird dann oft nach dem verpflichteten Besuch von NS-Gedenkstätten gerufen – eine Forderung, die auch durch ihre vielfache Wiederholung nicht klüger wird und die durch die Verknüpfung mit der Herkunft der Jugendlichen einen rassistischen Beigeschmack bekommt. Selten wird in diesem Kontext gefragt, wer diese jungen Menschen eigentlich sind, diese Mehrheit, die schon mit 15 Jahren beginnt, einer Lohnarbeit nachzugehen. Was unterscheidet sie von jenen, die eine höhere Schule besuchen? Welche Strukturen begründen oder verfestigen diese Unterschiede? Unter welchen Rahmenbedingungen findet historisch-politische Bildung an der Berufsschule statt und was bedeutet das für Fragen der Vermittlung?

In erster Linie unterscheiden sich Lehrlinge von jenen Jugendlichen, die eine höhere Schule besuchen, darin, dass sie viel weniger Zeit für Bildung zur Verfügung haben als ihre Altersgenossinnen und -genossen. Die Unterschiede liegen also vor allem anderen in ihrer gesellschaftlichen Position und ihrem Zugang zu Bildung. Diese wird in Österreich überdurchschnittlich stark vererbt – ein großer Teil der Lehrlinge hat Eltern, die selbst eine Lehre absolviert haben. Dennoch sind die jungen Erwachsenen, die uns in Berufsschulen begegnen, in vielerlei Hinsicht heterogen – auch bezüglich des eigenen Bildungshintergrunds (zu den folgenden statistischen Daten siehe Dornmayr, 2020). Nur ein knappes Drittel der Lehrlinge in Österreich steigt so in eine Lehre ein, wie es das Schulsystem vorsieht, also nach erfolgreicher Absolvierung der 9. Schulstufe an einer Polytechnischen Schule. Etwa genauso viele beginnen eine Lehre, nachdem sie eine höhere Schule abgebrochen haben. Es gibt auch einige Lehrlinge, die davor eine höhere Schule oder sogar ein Studium abgeschlossen haben. Viele Lehrlinge haben die Schulpflicht schon nach der 4. Klasse der Mittelschule (MS) erfüllt, weil sie im Laufe ihrer Schullaufbahn eine Klasse wiederholen mussten. Manche haben keinen Schulabschluss, weil sie noch nicht lange in Österreich sind oder ihr Abschluss in Österreich nicht anerkannt wird. Insgesamt haben Lehrlinge öfter negative Erfahrungen mit Schule und dem Bildungssystem gemacht als Gleichaltrige in höheren Schulen. Auch in Bezug auf ihren familiären Hintergrund sind Lehrlinge eine von Diversität geprägte Gruppe – der Anteil von Jugendlichen mit Migrationshintergrund oder nicht-deutscher Umgangssprache ist bundesweit unter den Lehrlingen jedoch deutlich geringer als unter den Schülerinnen und Schülern an kaufmännischen mittleren und höheren Schulen. Hier gibt es analog zum Anteil der Migrantinnen und Migranten an der Gesamtbevölkerung große Unterschiede zwischen Wien und den Bundesländern. Die oft konstatierte Heterogenität in Berufsschulklassen zeigt sich also deutlicher im Bildungshintergrund als in einem in seiner Definition etwas schwammigen „Migrationshintergrund“.

Die Vielfalt der Lernenden und ihrer Hintergründe stellt in allen Schultypen zugleich ein Potential und eine Herausforderung für historisch-politischen Unterricht dar. Sie ermöglicht lebendigen Austausch, Multiperspektivität und Lernen aus den Erfahrungen anderer. Sie macht es gleichzeitig schwierig, den Stand der Vorkenntnisse richtig einzuschätzen und den Unterricht so vorzubereiten, dass niemand unter- oder überfordert wird. Während etwa Berufsschülerinnen und-schüler, die ihre Lehre nach Abschluss einer höheren Schule beginnen, oft sehr viel historisches Wissen (vor allem zu zeitgeschichtlichen Themen) mitbringen, haben Jugendliche ohne positiven Hauptschulabschluss häufig Schwierigkeiten mit einer groben zeitlichen Einordnung des Nationalsozialismus und stützen ihr Geschichtsbild auf problematisches Halbwissen. Dazu kommen sprachliche Probleme, sei es, weil Schülerinnen und Schüler noch nicht lange Deutsch sprechen oder weil es an Lesekompetenz mangelt. Zusätzlich nehmen viele Lehrlinge sich selbst nicht als Adressatinnen oder Adressaten historisch-politischer Bildung oder als geschichtspolitische Akteurinnen und Akteure wahr und werden auch selten als solche adressiert. Lehrlinge stehen schon als Jugendliche im Berufsleben und sehen sich mit Arbeitsdruck konfrontiert und mit der Frage, inwiefern Inhalte, die sie in der Berufsschule lernen, in ihrem Beruf verwertbar sind (Schmid-Heher, 2019, S. 97f.).

Der ökonomische Verwertungsdruck, dem die Bildung von Lehrlingen ausgesetzt ist, zeigt sich auch an den zeitlichen Ressourcen, die für historisch-politische Bildung vorgesehen sind. Im seit 2016 gültigen Rahmenlehrplan ist Zeitgeschichte kein eigenes Themengebiet für den Unterricht, doch sind „zeitgeschichtliche Entwicklungen (…) unter Beachtung der Bedeutung der historischen Dimension der zu behandelnden Themenbereiche, insbesondere der Demokratie und Menschenrechte, in den Unterricht zu integrieren.“ Im Vergleich zu höheren Schulen bleibt trotz dieser Vorgabe meist nicht besonders viel Raum für Auseinandersetzung mit Zeitgeschichte und der Zeit des Nationalsozialismus. Lehrlinge verbringen etwa ein Viertel der Stundenanzahl gleichaltriger Gymnasiastinnen und Gymnasiasten in der Schule, über drei bis vier Jahre entweder einen Tag in der Woche oder zehn Wochen als Blockunterricht im Jahr. Etwa die Hälfte davon ist für Berufspraxis und Berufstheorie vorgesehen. Oft bleibt für die Auseinandersetzung mit Zeitgeschichte im Rahmen einer dreijährigen Lehrzeit gerade einmal eine Doppelstunde im Rahmen des Faches Politische Bildung.

Nationalsozialismus und Holocaust – Materialien, Zeitzeugen und Orte der Erinnerung in der schulischen Bildung

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