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Die Weltbevölkerung

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Forschungsstand

Vorangeschickt sei eine kurze Bemerkung zum Forschungsstand: Neuere Syntheseversuche zur Geschichte der Weltbevölkerung zwischen 1200 und 1800 gibt es nicht. Die letzten Versuche stammen aus den 1960/1970er Jahren. Seither wurde enorm viel an historisch-demographischer Detailforschung zu einzelnen Ländern und Weltregionen unternommen. Eine globale Synthese dieser regionalen Forschungen steht aber noch aus. 2001 wurde zwar in Florenz eine Konferenz zur Geschichte der Weltbevölkerung im vergangenen Jahrtausend abgehalten. Der im Anschluss daran geplante »Atlas of World Population in the Second Millennium« ist aber bisher noch nicht erschienen. Wir sind deshalb weiterhin auf die Studien aus den 1960er und 1970er Jahren angewiesen. Eine dieser Studien stammt von dem französischen Demographen Jean-Noël Biraben. Nach seiner Schätzung nahm die Weltbevölkerung zwischen 1200 und 1800 von 400 Millionen auf 954 Millionen zu, das heißt, sie vergrößerte sich im Untersuchungszeitraum um mehr als das Doppelte.

Demographische Einbrüche

Das Wachstum verlief zunächst langsam und stetig, im 18. Jahrhundert dann aber deutlich beschleunigt. Nur einmal, im 14. Jahrhundert, schrumpfte die Weltbevölkerung als Ganzes. Hinter diesen Globaldaten verbergen sich nun aber beträchtliche regionale Unterschiede sowie völlig unterschiedliche demographische Entwicklungspfade. So war in China das Wachstum mehrere Male massiv eingebrochen – zunächst im 13. Jahrhundert im Zuge der Eroberung Nordchinas durch die Mongolen, ein weiteres Mal im 14. Jahrhundert im Zuge des Machtwechsels von der Yuan- auf die Ming-Dynastie sowie nochmals im 17. Jahrhundert während der Eroberung Chinas durch die Mandschu. Europa erlebte seinen massivsten demographischen Einbruch im Zusammenhang mit der Pestepidemie von 1347 bis 1351. Noch weit in den Schatten gestellt werden diese genannten demographischen Einbrüche von dem, was in den beiden Amerikas nach 1492 geschah. Innerhalb von nur einem Jahrhundert dürften hier 75 bis 90 Prozent der indianischen Bevölkerung ausgestorben sein. In einigen Regionen, wie zum Beispiel auf den Karibischen Inseln, wurde die autochthone Bevölkerung praktisch völlig ausgelöscht. Sicher ist, dass es sich dabei um eine der größten demographischen Tragödien der Weltgeschichte handelte. Relativ gesichert sind heute auch die Ursachen dieser Tragödie: Die Hauptursache waren die neuen Krankheiten, die aus der Alten Welt eingeschleppt wurden, wie Pocken, Masern, Typhus, Grippe oder Beulenpest. Die indianische Bevölkerung hatte gegen diese Krankheiten keine Immunstoffe und war ihnen schutzlos ausgeliefert. Das Auftreten von Seuchen war in der Weltgeschichte an und für sich nichts Neues. Das Besondere an den Seuchen in der Neuen Welt des 16. Jahrhunderts war das simultane Auftreten von mehreren Erregern gleichzeitig. Es führte zum demographischen Kollaps einer ganzen Weltregion.

Unsicher ist nach wie vor das präzise quantitative Ausmaß der Katastrophe, weil wir auf Grund fehlender Quellen die genaue Größe der indianischen Bevölkerung zur Kontaktzeit 1492 nicht kennen. Ältere Schätzungen variieren hier enorm, und zwar von weniger als 10 Millionen bis über 100 Millionen. Neuere Forschungen gehen von einer Kontaktbevölkerung im Jahre 1492 in der Größenordnung von um die 50 Millionen Menschen aus. Ein Jahrhundert später waren davon noch ca. 10 Millionen übrig geblieben. Der demographische Kollaps der indianischen Bevölkerung bremste zweifellos das Wachstum der Weltbevölkerung massiv. Trotzdem ging der globale Aufwärtstrend weiter, im 17. Jahrhundert zunächst noch langsam, im 18. Jahrhundert dann beschleunigt. Nach der Schätzung von Biraben wuchs die Weltbevölkerung zwischen 1700 und 1800 von 680 Millionen auf 954 Millionen an.


Die Weltbevölkerung 1200 bis 1800. Die Schätzung von Jean-Noël Biraben (1979).

Verteilung der Weltbevölkerung

Die Weltbe völkerung war im Untersuchungszeitraum extrem ungleich verteilt. Einerseits gab es die drei „Dichte-Zentren“ China, Indien und Europa, die zwischen 60 und 70 Prozent der Weltbevölkerung umfassten, obwohl sie zusammengenommen nur weniger als 10 Prozent der Landfläche der Erde ausmachten. Andererseits existierten die in ihrer Gesamtheit noch vergleichsweise dünn besiedelten Regionen in Australien, Ozeanien und den beiden Amerikas. Sie stellten weniger als 10 Prozent der Weltbevölkerung, besaßen aber ein enormes demographisches Entwicklungspotential, das zum Großteil erst im 19. und 20. Jahrhundert ausgeschöpft wurde. Die Gruppe mit mittlerer Bevölkerung umfasste zwischen einem Viertel und knapp einem Drittel der Weltbevölkerung.

Wie ist diese extrem ungleiche geographische Verteilung der Weltbevölkerung nun zu erklären? Wie kann verstehbar gemacht werden, dass allein China, Indien und Europa zwischen 60 und 70 Prozent der Weltbevölkerung beheimateten, obwohl sie weniger als 10 Prozent der Erdoberfläche umfassten? Wie immer ist auch hier keine einfache Antwort möglich: Viele Faktoren spielten eine Rolle. Die Geographie, der Naturraum, das Klima sind hier an erster Stelle zu nennen; und damit zusammenhängend natürlich das System der Landnutzung. Alle drei Dichte-Zentren wiesen Landnutzungssysteme mit relativ hoher Intensität auf. China (inkl. Japan) besaß von allen drei Regionen das intensivste Landnutzungssystem, Europa das am wenigsten intensive, Indien nahm eine Zwischenposition ein. In China war es insbesondere das System des Nassreisanbaus, das eine enorm hohe Landnutzungsintensität zuließ. Es hatte sich im Laufe des 1. Jahrtausends n. Chr. in Südchina ausgebreitet und besaß sein Zentrum im Deltagebiet des Jangtse. Von allen Agrarsystemen der Welt besaß es die höchste Landnutzungsintensität. Es ernährte die meisten Menschen pro Hektar Ackerland, machte andererseits aber wegen seiner hohen Arbeitsintensität auch die höchste Zahl an landwirtschaftlichen Arbeitskräften notwenig. So konnten um 1620 im Jangtse-Delta pro Quadratkilometer landwirtschaftlicher Nutzfläche 689 Personen ernährt werden. In Japan waren es um 1600 581 Personen, um 1800 dann bereits 1010 Personen. Im Vergleich dazu konnten in Europa um 18. und frühen 19. Jahrhundert pro Quadratkilometer Nutzfläche nur zwischen ca. 100 und ca. 200 Personen ernährt werden. Indien nahm mit 269 bis 358 Personen pro einem Quadratkilometer (1600–1900) wieder eine Zwischenposition ein.

Nassreisanbau

Verstehbar wird diese hohe Nutzungsintensität im Nassreisanbau Südchinas und Japans, wenn man sich folgende Besonderheiten der Kulturpflanze Reis sowie des Systems des Nassreisanbaus vor Augen hält: Reis zählt zu den Hochertragspflanzen. Jede Reispflanze kann mehrere Rispen tragen. Jede Rispe kann wiederum zwischen 400 und 500 Reiskörner produzieren. Das Verhältnis von Aussaat zur Ernte lag so immer in der Größenordnung von eins zu hundert. Das Wasser ist der wichtigste Faktor beim Anbau. Es liefert gewöhnlich alle für das Wachstum nötigen Nährstoffe, da sich im Wasserbeet Blaualgen sammeln, die sich mit Stickstoff anreichern und so die Fruchtbarkeit im Reisfeld sichern. Tierischer Dünger zur Wiederherstellung der Bodenfruchtbarkeit ist so vom Prinzip her nicht nötig. Großvieh spielt als Düngerlieferant in den Nassreissystemen keine beziehungsweise nur eine untergeordnete Rolle; und Großvieh ist auch als Zugvieh nicht oder nur in geringem Ausmaß notwendig, da die von einer Bauernfamilie bewirtschaftete Fläche auf Grund der hohen Landnutzungsintensität relativ klein ist. Das System des Nassreisanbaus besitzt eine Reihe von Intensivierungsmöglichkeiten. Dazu zählt die Technik des Verpflanzens, der Einsatz schneller reifender Reissorten, die mehrere Ernten pro Jahr ermöglichen, die Effizienzsteigerung im System der Wasserkontrolle sowie der Einsatz von menschlichen Fäkalien und Ölkuchen als zusätzliche Dünger.

System der gemischten Landwirtschaft

Die Kontrastfolie zum Nassreisanbau bildet das nordwesteuropäische System der gemischten Landwirtschaft. Roggen, Gerste, Weizen und Hafer sind Kulturpflanzen mit relativ niedrigen Erträgen. Die Ähren dieser Getreidepflanzen tragen verhältnismäßig wenige Körner, gewöhnlich nur einige Dutzend, und jede Pflanze hat meistens auch nur eine Ähre. Das Verhältnis von Aussaat zur Ernte lag deshalb in Nordwesteuropa im Mittelalter im Bereich zwischen drei und vier, in der Frühen Neuzeit zwischen vier und zehn. Die Vegetationsperiode ist in Nordwesteuropa relativ kurz und erlaubt deshalb keine Mehrfachernten. Großvieh spielte eine zentrale Rolle in diesem Agrarsystem, und zwar einerseits als Zugvieh und andererseits als Hauptlieferant von Dünger. Tierischer Dünger war bis zur verstärkten Einführung Stickstoff bindender Leguminosen (Hülsenfrüchtler) im 18. Jahrhundert essentiell zur Wiederherstellung der Bodenfruchtbarkeit, genau wie die zeitliche Unterbrechung des Anbaus durch den Einsatz der Brache.

Agrarsystem in Indien

Eine Mittelposition zwischen dem hoch intensiven Landnutzungssystem Chinas und dem weniger intensiven nordwesteuropäischen Agrarsystem nahm Indien ein. Nassreisanbau hat in Indien zwar eine lange Tradition, wurde aber bis weit ins 20. Jahrhundert hinein viel weniger intensiv betrieben als in Südchina oder Japan. Reis wurde hier ausgesät und nicht verpflanzt. Künstliche Bewässerung war selten. Noch im Jahr 1901 wurden nur 2 Prozent der indischen Reisfläche künstlich bewässert, in China waren es hingegen um 1400 bereits ca. 30 Prozent der Ackerfläche. Indien hat weiterhin riesige Regionen mit sehr geringen Regenfällen. Ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung lebt in tropischen Trockenzonen mit weniger als 770 mm an jährlichen Niederschlägen. Dort, wo ausreichend Regen fällt, ist dieser konzentriert auf die wenigen Monate mit Monsunregen. Der Monsun ist außerdem in hohem Maße variabel. Nicht selten bleibt er auch ganz aus. Hungersnöte auf Grund des Ausbleibens des Monsunregens sind ein fester Bestandteil der historischen Erfahrung Indiens. Die indischen Bauern behalfen sich deshalb in den trockenen Regionen mit dem Anbau von ertragsärmeren, dafür aber dürreresistenten Getreidesorten wie Sorghum und Hirse.

Landnutzung außerhalb der drei Dichte-Zentren

Die Landnutzungssysteme außerhalb der drei genannten Dichte-Zentren wiesen ein hohes Maß an Vielfalt auf. Insgesamt waren es aber relativ extensive Formen der Landnutzung. Dazu zählte die Nomadenwirtschaft im Trockengürtel der Alten Welt (Zentralasien, große Teile von Westasien und Nordafrika) genauso wie die verschiedenen Formen von Brandrodung und Wanderfeldbau in Südostasien, Subsahara-Afrika und den beiden Amerikas. Nicht vergessen darf man in diesem Zusammenhang auch die unzähligen Jäger-Sammler-Kulturen. Um 1200 waren noch ganze Weltregionen von ihnen geprägt. Im Untersuchungszeitraum wurde ihr Lebensraum zwar immer kleiner; weltweit drängten aggressive landwirtschaftliche Frontiergesellschaften die Jäger-Sammler-Kulturen in immer peripherere Rückzugsregionen zurück. Trotzdem gab es auch um 1800 noch beträchtliche Lebensräume für diese Kulturen und zwar im äußersten Nordosten Asiens, in Rückzugsregionen Südostasiens, in Teilen von Subsahara-Afrika sowie im äußersten Norden und äußersten Süden des amerikanischen Doppelkontinents.

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