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Technischer Wandel
ОглавлениеMarcus Popplow, Reinhold Reith
In der Geschichte globaler technischer Entwicklungen kommt der Zeit zwischen 1200 und 1800 eine besondere Bedeutung zu. Agrarsysteme und gewerbliche Produktion waren gerade in verschiedenen Hochkulturen des eurasischen Raumes weit entwickelt. Verschiebungen solcher Zentren gewerblich-technischen Wissens sind vielfach mit der Metapher eines Pendels beschrieben worden: Vom arabischen Raum des 8./9. Jahrhunderts habe sich dieses mit dem Beginn der chinesischen Song-Dynastie (960–1279) für lange Zeit nach Ostasien verlagert und erst im 18./19. Jahrhundert zugunsten der europäischen Kernregionen ausgeschlagen. Dementsprechend war der Stand der europäischen Technik in der Metallurgie, dem Schiffbau oder dem Wasserbau lange Zeit weit weniger avanciert als beispielsweise in chinesischen Herrschaftsbereichen.
„Europäischer Sonderweg“?
Vergleichende Überlegungen zu einzelnen Zweigen der chinesischen, japanischen, indischen, arabischen/osmanischen, europäischen, meso- oder nordamerikanischen Technikgeschichte im Zeitraum zwischen 1200 und 1800 finden sich bislang vornehmlich in der Debatte um die Ursachen, warum gerade Europa den Weg in die industrialisierte Moderne einschlug – in der deutschen Forschung mit dem Schlagwort des „europäischen Sonderwegs“ bezeichnet. Umstritten ist, ob sich Faktoren, die diesen „Sonderweg“ einläuteten, eher langfristig seit dem Hochmittelalter aufbauten, oder ob erst eine Konstellation weitgehend kontingenter Entwicklungen um 1800 Europa eine unerwartete Tür in die technisch-industrielle Moderne öffnete.
Vergleich mit anderen Hochkulturen
Da der Industrialisierungsprozess jedoch immer maßgeblich über den verstärkten Einsatz neuer Technologien wie Textilmaschinen, Werkzeugmaschinen, neuer Verfahren in der Eisen- und Stahlherstellung oder der Dampfmaschine definiert wird, muss dem technikhistorischen Vergleich mit anderen Hochkulturen hier besondere Aufmerksamkeit gelten. Ältere Auffassungen, nach denen die „wissenschaftlich-rationale“ Mentalität des frühneuzeitlichen Europa Grundlage seiner langfristigen technischen Erfolge im Industrialisierungsprozess gewesen sei, sind demgegenüber weitgehend zu den Akten gelegt. Während sich die Technikentwicklung in Europa vor 1800 praktisch nirgends der Umsetzung „wissenschaftlicher“ Erkenntnisse verdankt, lassen sich gleichzeitig unzählige Beispiele für „rationales“ technisches Handeln und spektakuläre Erfindungstätigkeit in anderen Hochkulturen anführen.
Technikbegriff
Den folgenden Abschnitten liegt ein weitgefasster Technikbegriff zugrunde: Er umfasst Werkzeuge, Instrumente und Maschinen ebenso wie Verfahrensweisen im agrarischen beziehungsweise handwerklich-gewerblichen Bereich. Prinzipiell erstreckt er sich auch auf damit verbundene Produktinnovationen oder arbeitsorganisatorische Innovationen, die jedoch an dieser Stelle nur kursorisch behandelt werden können. Ein solches breites Verständnis grenzt sich damit von einem Technikbegriff ab, der spektakuläre technische Erfindungen als Maßstab intellektueller Höchstleistungen setzt und daraus kulturelle Überlegenheit abzuleiten sucht. Denn Auflistungen neuer Erfindungen zwischen 1200 und 1800 helfen nicht weiter, um ökonomische, soziale und kulturelle Konsequenzen solcher Neuerungen zu erkennen: Die neuere Forschung hat vielfach gezeigt, dass gerade Hochkulturen des eurasischen Kontinents neue Erfindungen in recht unterschiedlicher Weise nutzten – ein instruktives Beispiel dafür ist der Buchdruck. Auch Phänomene wie die im Vergleich zu Europa weit höhere agrarische Produktivität ostasiatischer Regionen werden durch einen artefaktzentrierten Technikbegriff nicht abgedeckt. Wie im Beitrag „Bevölkerung und Landnutzung“ gezeigt wurde, waren technische Hilfsmittel ohnehin nur in sehr beschränktem Maße für die Transformation von Agrarsystemen verantwortlich – neuartige Anbaupraktiken oder der Transfer von Nutzpflanzen aus anderen (Welt-)Regionen hatten oft weiterreichende Auswirkungen. Innovative Großprojekte im Bauwesen oder die Anlage von Bewässerungssystemen – für viele Hochkulturen von essentieller Bedeutung – verdanken sich ebenfalls nicht unbedingt neuen technischen Erfindungen. Auch die Produktivität des indischen Baumwollgewerbes um 1700, dessen ebenso hochwertige wie vielfältige Produkte in Europa ebenso begehrt waren wie in China, beruhte maßgeblich auf einem kleinteilig organisierten, effizienten Produktionssystem. Werden solche Phänomene durch die Fixierung auf herausragende Erfindungen übersehen, bleibt ein wesentliches Charakteristikum der Ökonomie vorindustrieller Hochkulturen im Dunkeln: die Vielfalt handwerklicher Produktionsprozesse, die sich in Zeiten agrarischer Überschüsse etablierte und auf deren Basis spektakuläre Erfindungen überhaupt erst gelingen konnten. Traditionelle Maßstäbe der europäischen Technikentwicklung wie eine positive Bewertung von Produktivitätssteigerungen, der Einsatz zeit- und arbeitssparender Geräte oder wachsende Betriebsgrößen sollten demnach gegenüber der Frage in den Hintergrund treten, welche Lebensqualität die in einer Kultur verbreiteten technischen Fertigkeiten und Verfahrensweisen unter spezifischen Umweltbedingungen ermöglichten.
Grenzen des „solaren Systems“
Angesichts der aus technikhistorischer Sicht häufig noch defizitären Forschungslage muss sich die Darstellung im Folgenden darauf beschränken, exemplarisch Transformationen in unterschiedlichen Weltregionen zu skizzieren, die zwischen 1200 und 1800 durch neue technische Artefakte und Verfahrensweisen ausgelöst wurden. Dabei sei im Voraus an zwei grundlegende Zusammenhänge erinnert, die für technische Wandlungsprozesse in der Zeit zwischen 1200 und 1800 charakteristisch waren, aus der Perspektive der modernen Industriegesellschaften jedoch nur noch schwer nachvollziehbar sind: Zum einen basierten technische Leistungen in dieser Zeit zum allergrößten Teil auf nicht schriftlich niedergelegtem Erfahrungswissen und waren nicht durch wissenschaftliche Theoriebildung nach modernem Verständnis abgesichert. Zum anderen beruhte die Technik dieser Epoche praktisch vollständig auf Energiequellen wie menschlicher und tierischer Muskelkraft, der Verbrennungsenergie von Holz(kohle) sowie Wasser- und Windkraft. Die allen Kulturen gemeinsamen Grenzen dieses „solaren Systems“ wurden erst im 19. Jahrhundert durch nun verstärkt genutzte fossile Energiequellen aufgehoben.