Читать книгу wbg Weltgeschichte Bd. IV - Группа авторов - Страница 16

Erfindungen und Techniktransfer

Оглавление

Technische Blütezeit in Europa

In der historischen Innovationsforschung sind Heroentheorien genialer Erfinder zugunsten der Untersuchung technischer „Entwicklungs-“ oder „Wandlungsprozesse“ aufgegeben worden. Unterschieden wird dabei zwischen grundlegenden Basisinnovationen und darauf folgenden Verbesserungsinnovationen. Nimmt man Phasen der Verdichtung solcher Innovationen in den Blick, markieren die Zeiten um 1200 und um 1800 für Europa weit deutlichere Einschnitte als für andere Hochkulturen. Das 12./13. Jahrhundert gilt mit der Einführung neuer Mühlentypen, der gotischen Bautechnik, dem großen Gegengewichtskatapult (Tribock), Armbrust, Spinnrad, dem mit Pedalen für die Fachbildung ausgestatteten horizontalen Webstuhl, der mechanischen Räderuhr, Kompass, Papier und Brille als technische Blütezeit. Die meisten dieser Innovationen gelangten aus dem Fernen und Nahen Osten in das mittelalterliche Europa und wurden dort weiterentwickelt beziehungsweise regionalen Gegebenheiten angepasst. Erst der Industrialisierungsprozess sollte in den Jahrzehnten um 1800 wieder mit einem derartigen, quantitativ noch weit ausgeprägteren Innovationsschub einhergehen: der Dampfmaschine im stationären Einsatz wie auch zu Transportzwecken (Eisenbahn und Dampfschiff), neuen Verfahrensweisen in der Eisen- und Stahlproduktion (Verkokung von Steinkohle, Puddeln und Walzen), der Nutzung von Spinnmaschinen und mechanischen Webstühlen, der Einführung zahlreicher neuer Werkzeugmaschinen und weiterem mehr. Als maßgeblicher Einschnitt gilt gleichzeitig der bereits angesprochene, von Großbritannien ausgehende Zugriff auf Kohlevorkommen, den „unterirdischen Wald“, als Übergang zur umfassenden Nutzung nicht regenerierbarer Ressourcen.

China Osmanisches Reich und Indien

Für China und das arabische Großreich kennzeichnet die Zeit um 1200 hingegen – zum Teil verursacht durch die mongolischen Eroberungen – eher das Abklingen von Phasen spektakulärer Basisinnovationen. China hatte während der Song-Dynastie (960–1279) weitreichende Entwicklungen in zahlreichen Technologien gemacht: Fortschritte im Agrarsektor und der Metallurgie ebenso wie Ansätze zur Massenproduktion mit arbeitsteiligen Prozessen im Textilsektor führten zu einem Anstieg der Pro-Kopf-Produktivität, der ähnlichen Werten im englischen Industrialisierungsprozess um Jahrhunderte zuvorkam. Die Ming-Dynastie (1368–1644), häufig als Phase der technologischen Stagnation oder gar des Niedergangs beschrieben, wird in der neueren Forschung mehr und mehr als Zeit der Konsolidierung einer hochentwickelten Landwirtschaft und gewerblicher Produktivität mit großen, staatlich organisierten Manufakturen beurteilt. Auch im arabischen Kulturraum gilt die Zeit zwischen dem 9. und dem 13. Jahrhundert als Blütezeit von Technik (Landwirtschaft, Automaten- und Uhrenbau) und Wissenschaft (Astronomie, Mathematik, Optik, Mechanik). Die Besetzung von Bagdad als politischem und kulturellem Zentrum durch die Mongolen 1258 bedeutete das Ende technischer Systeme wie der komplexen Bewässerungsanlagen im Zweistromland, auch wenn gewerblichtechnische Aktivitäten in anderen Zentren wie Damaskus oder Kairo davon weniger betroffen waren. Auf dem Indischen Subkontinent ist die Zeit um 1200 ebenfalls nicht als Einschnitt zu verstehen. Während der hohe Stand des dortigen mathematischen und astronomischen Wissens unumstritten ist, ist über technische Wandlungsprozesse in den unruhigen Zeiten vor der Etablierung des Mogulreiches ab 1526 wenig bekannt.

Die Zeit um 1800 markiert dann aus technikhistorischer Sicht für China, das Osmanische Reich und Indien insofern einen Einschnitt, als diese Regionen sich in der Folge mehr und mehr – vielfach erzwungenermaßen – an europäischen Technologien ausrichteten. So erzwang beispielsweise die englische East India Company im 17./18. Jahrhundert den Einsatz europäischer Webstühle, um die indische Textilherstellung auf die Produktion standardisierter Tuche für die europäischen Exportmärkte umzustellen. Wie viel Spielraum dennoch weiterhin für autochtone Entwicklungen bestand und wie er genutzt wurde, ist vielfach noch nicht erforscht. Für die Hochkulturen in Meso- und Südamerika war dieser Einschnitt durch die Eroberungen der europäischen Kolonialmächte bereits im 16. Jahrhundert in weit schärferer Form erfolgt. Die im 15. Jahrhundert zur Großmacht aufgestiegenen Azteken im Gebiet des heutigen Mexiko wurden binnen weniger Jahre ebenso ausgelöscht wie das Reich der Inka in den Anden (s.S. 130–136).

Gewerberegionen

Zu bedenken ist in diesem Kontext, dass die Tendenz, „Europa“, „China“ oder „Indien“ zwischen 1200 und 1800 als monolithische Blöcke mit einer je einheitlichen Entwicklung zu sehen, nur eine heuristische Hilfskonstruktion sein kann. Präziser ist es zweifellos, die technische Entwicklung bestimmter Gewerberegionen zu analysieren, die sich in allen Hochkulturen auf Grund spezifischer naturräumlicher (Rohstoffe, Transportwege) und historischer Bedingungen herausbildeten. Für Europa ist beispielsweise an Oberitalien im Spätmittelalter, den oberdeutschen Raum im 14./15. Jahrhundert, Flandern und die Niederlande im 16. beziehungsweise 17. Jahrhundert sowie an England mit dem Beginn des Industrialisierungsprozesses im 18. Jahrhundert zu denken; für China unter anderem an das Zentrum der Porzellanherstellung Jingdezhen oder die Seidenverarbeitung in der Gegend um Suzhou und Hangzhou.

Austausch technischen Wissens

Der Transfer von Technologien zwischen ökonomisch prosperierenden Regionen erfolgte zwischen 1200 und 1800 zumeist auf informellem Wege, ohne „Speichermedien“ wie technische Literatur oder Ausbildungsinstitutionen für technische Experten. Insbesondere zwischen den durch Land- und Seewege eng vernetzten asiatischen Kulturen vermittelten Reisende, Kaufleute und Soldaten Informationen über anderswo gesehene Technologien über weite Strecken, zum Teil bis nach Afrika und Europa. Gerade die Phase der Pax Mongolica (s. dazu Band III) beförderte im 13./14. Jahrhundert den Wissenstransfer. Über die Handelswege, die den arabischen Raum mit Indien und dem Fernen Osten verbanden, verbreiteten sich beispielsweise Schießpulver und Feuerwaffen aus China innerhalb des gesamten eurasischen Kontinents. Auch kriegerische Auseinandersetzungen im engeren Sinne hatten für den Austausch technischen Wissens zentrale Bedeutung. Zu denken ist an die Migration von Soldaten und Söldnern ebenso wie an Vertreibungen der Zivilbevölkerung oder die Auswanderung von Glaubensflüchtlingen. Als klassisches Beispiel gelten die europäischen Kreuzzüge in das Heilige Land. Sie beschleunigten den Transfer der im arabischen Raum genutzten Waffen- und Belagerungstechnik nach Europa ebenso wie beispielsweise die Übernahme der Papierherstellung. Unabhängig davon waren ingenieurtechnische Experten in der Zivil- und Militärtechnik innerhalb einzelner Kulturen häufig zu Mobilität gezwungen, wenn Großprojekte an einem Ort vollendet waren. Auch spezialisierte Handwerker verbrachten ihr Berufsleben nicht unbedingt nur an einem Ort, teilweise war ihre Mobilität auch institutionalisiert, beispielsweise in Form der Gesellenwanderung im frühneuzeitlichen Europa.

Obrigkeitliche Initiativen

Obrigkeitliche Initiativen zur gezielten Streuung technischer Innovationen innerhalb eines Herrschaftsgebietes, insbesondere im agrarisch-gewerblichen Bereich, sind zunächst in Hochkulturen mit zentralen Verwaltungsinstitutionen wie China und dem Abbasidenreich belegt. In China suchten Verwaltungsbeamte vielfach Wissen um agrarische Innovationen in andere Provinzen zu verbreiten. Die Ming-Dynastie institutionalisierte die Zirkulation spezialisierter Handwerker zwischen staatlich betriebenen Textil- und Porzellanmanufakturen. Herrscher des arabischen Großreiches förderten systematisch den Transfer von Experten im Wasserbau, um das Funktionieren der ausgeklügelten Bewässerungssysteme in den semiariden Zonen um das Mittelmeer und im Nahen Osten zu sichern. In Europa verstärkte sich die Förderung bestimmter Technologien als Teil einer systematischen territorialen Wirtschaftspolitik erst im 18. Jahrhundert. Bis ins Mittelalter reichen allerdings Initiativen zurück, neue Gewerbe durch Spionage oder Abwerbung von Experten aus benachbarten Territorien in das eigene Land zu holen.

Überwindung sprachlicher Grenzen

Der Blick auf solche Transferprozesse macht die oft überraschend breite Basis avancierter handwerklicher Fertigungsprozesse im eurasischen Raum verständlich. Technisches Wissen scheint hier zuweilen mühelos beinahe unüberwindbare sprachliche Grenzen unterlaufen zu haben. So besserten, trotz aller fertigungstechnischen Unterschiede, auf asiatischen Werften einheimische Handwerker vielfach Schiffe der europäischen Kolonialmächte aus. Nachdem im 16. Jahrhundert die ersten Gewehre nach Japan gelangt waren, gelang es dort innerhalb kurzer Zeit, diese in großen Stückzahlen nachzubauen und auch die Technik der Schießpulverherstellung zu übernehmen. Entsprechende Fähigkeiten waren auch die Grundlage für die Erfüllung europäischer Designwünsche durch asiatische Produzenten. So arbeiteten indische Textilfabrikanten seit dem späten 17. Jahrhundert häufig mittels Musterbüchern für englische, holländische oder französische Auftraggeber, ebenso wie die chinesischen Porzellanfabriken im 18. Jahrhundert ausgefallene Vorgaben europäischer Kunden erfüllten.

Hürden der Umsetzung

Auf der anderen Seite standen dem erfolgreichen Transfer von Technologien durch Einzelpersonen oder kleine Gruppen zahlreiche Hürden entgegen. Gerade mit Blick auf die Zeit vor 1500 ist daher umstritten, ob tatsächlich alle zuerst im Fernen Osten belegten Erfindungen auf dem ein oder anderen Weg nach Europa diffundierten, oder ob sie dort zum Teil auch „nacherfunden“ wurden. Beispielsweise könnte das (teil-)mechanisierte Spinnen mit Hilfe eines großen, als Schwungmasse genutzten Rades im späten 13. Jahrhundert aus der indischen Baumwollverarbeitung über den Nahen Osten nach Europa gelangt sein. Denkbar ist jedoch auch eine eigenständige Entwicklung im Rahmen des prosperierenden zentraleuropäischen Textilgewerbes selbst. Letztlich erforderten informelle wie dezidiert gesteuerte Transferprozesse in der Regel eine Anpassung technischer Gerätschaften und Verfahrensweisen an naturale, kulturelle und ökonomische Bedingungen der Zielregion. So erwiesen sich architektonische und städtebauliche Prinzipien Europas in den mittelamerikanischen Kolonien allein aus klimatischen Gründen vielfach als ungeeignet. Andere Hürden der Umsetzung waren abweichende Eigenschaften verfügbarer Rohstoffe ebenso wie fehlende Zuliefer- und Abnahmenetze oder transporttechnische Infrastrukturen.

wbg Weltgeschichte Bd. IV

Подняться наверх