Читать книгу Prächirurgische Diagnostik und chirurgische Epilepsietherapie - Группа авторов - Страница 34
Hintergrundinformationen 2 Welche Patienten sollen für ein Video-EEG-Monitoring zugewiesen werden?
ОглавлениеDas primäre Kriterium für eine Einweisung zur weiteren Diagnostik ist die medikamentöse Therapieresistenz, definiert als fehlende Anfallsfreiheit nach zwei adäquaten medikamentösen Versuchen der Anfallskontrolle, jeweils mit gut tolerierten und entsprechend der Epilepsie ausgewählten antiepileptischen Medikamenten, entweder in Monotherapie oder in Kombination (Kwan et al. 2010). Eine Aufdosierung bis zur Nebenwirkungsgrenze ist nicht erforderlich. Bei einer allergischen Nebenwirkung bei geringer Dosierung gilt die betreffende Substanz nicht als adäquat dosiert und zählt daher nicht mit. Bei Kombinationstherapien zählt jede einzelne Substanz. Also würde zum Beispiel eine Anfallsfrequenz von 1–2 Anfällen mit Bewusstseinstrübung im Jahr bei einer Medikation von 200–300 mg/Tag Lacosamid in Kombination mit 2.000 mg/Tag Levetiracetam das Kriterium der medikamentösen Therapieresistenz erfüllen. Das in diesem Kapitel geschilderte Fallbeispiel erfüllt diese Kriterien bezüglich der vorangegangenen Medikamente.
Leider wird nur ein kleiner Teil von Patienten, die davon profitieren könnten, einem erfahrenen Zentrum zugewiesen. Hierzu tragen – oft unberechtigte und unausgesprochene – Vorbehalte ambulant tätiger Ärzte, aber auch der Patienten selbst bei (Steinbrenner et al. 2019). Die Forderung, therapieresistente Patienten in ein Zentrum einzuweisen, umfasst im weiteren Sinne auch Patienten, bei denen eine fokale Epilepsie (noch) nicht sicher diagnostiziert worden ist. Zum Beispiel kommt es vor, dass ambulant eine idiopathische generalisierte Epilepsie aufgrund der Anfallssemiologie vermutet wird, sich stationär aber herausstellt, dass es sich um eine fokale Epilepsie handelt (z. B. juvenile myoklonische Epilepsie versus fokale Epilepsie mit myoklonischen und tonischen Anfällen durch eine epileptogene Region mit Propagation in die supplementäre sensomotorische Region parasagittal fronto-zentral). Der geschilderte Fall veranschaulicht diese Situation: Bis zur invasiven Diagnostik war nicht abschließend klar, ob der Patient tatsächlich epileptische Anfälle hatte.
Auch das Vorhandensein einer Läsion im MRT ist für die Frage der stationären Diagnostik nicht entscheidend, da im MRT sichtbare Läsionen sich teils als nicht epileptogen herausstellen und andererseits trotz extern als negativ befundeten MRTs eine erneute Untersuchung mit speziellen Sequenzen, Schichtungen und post-processing der Daten doch verlässliche Läsionen bzw. zumindest Hypothesen für eine Diagnostik ergeben kann (von Oertzen et al. 2002).
Auch Patienten mit weniger häufigen Anfällen kommen für eine prächirurgische Diagnostik in Betracht.
»Hohe Anfallsfrequenz« ist ebenfalls für die Zuweisung kein notwendiges Kriterium. »Seltene« Anfälle mit Bewusstseinstrübung für 1–2 Minuten mögen zwar aus der Sicht des betreuenden Arztes als tolerabel erscheinen, haben jedoch erhebliche Konsequenzen für die soziale Entwicklung im beruflichen und persönlichen Umfeld, möglicherweise verstärkt durch langjährigen Antiepileptika-Gebrauch und Antiepileptika-Nebenwirkungen sowie durch neuropsychologische und psychiatrische Auffälligkeiten. Der Beispielfall in diesem Kapitel erfüllt dieses Kriterium im engen Sinne nicht, da keine Bewusstseinstrübung vorlag. Andererseits waren die Auren und auch die Auren mit Sprachstörung belastend. Oft kann der Frage einer Bewusstseinstrübung erst im Monitoring geklärt werden, zum Beispiel bei Automatismen mit erhaltener Reaktivität bei Epilepsie des nicht-dominanten Temporallappens (Ebner et al. 1995).
Eine »dramatische« Semiologie kann Ausdruck psychogen-dissoziativer Anfälle sein; auch hier ist die Diagnostik wichtig, um ein psychotherapeutisches Angebot, ggf. stationär in einer spezialisierten Abteilung, zu initiieren. Eine »dramatische« Semiologie kann aber auch Ausdruck hyperkinetischer Anfälle mit heftigen stammnahen Körperbewegungen sein, zum Beispiel bei einer fokalen kortikalen Dysplasie im Frontallappen (Gibbs et al. 2019).
Auch Patienten mit einer Intelligenzminderung profitieren von einer prächirurgischen Diagnostik.
Patienten mit Intelligenzminderung haben oft eine ausgedehnte Hirnschädigung oder ein funktionelles Defizit an strategischen Hirnarealen. Viele Patienten mit niedrigem IQ profitieren dennoch von einem epilepsiechirurgischen Eingriff. Nach zwei Jahren waren die folgenden Anteile operierter Patienten anfallsfrei: bei einem IQ von < 50: 22 %; bei IQ 50–69: 37 %; bei IQ > 70: 61 % (Malmgren et al 2008). Anfälle in hoher Frequenz oder mit Sturz und Verletzungen sind sicher bevorzugt ein Grund, in einem Epilepsiezentrum diagnostische und therapeutische Hilfe zu bekommen. Operativ kann bei Sturzanfällen bei einem Teil der Patienten eine Kallosotomie angeboten werden, mit einer hohen Chance eines Sistierens der Sturzanfälle.