Читать книгу Eine Aussenpolitik für die Schweiz im 21. Jahrhundert - Группа авторов - Страница 11
Die Europäische Union als grösste Herausforderung für die Schweiz
ОглавлениеUnter all den Fragen, die Gegenstand dieser Publikation sind, dominiert eine alle anderen: die Beziehung zur Europäischen Union. Das Buch erscheint wenige Monate nach dem Entscheid des Bundesrats vom 26. Mai 2021, die Verhandlungen über ein Institutionelles Abkommen mit der EU abzubrechen. Nach fast 20 Jahren Diskussion und Verhandlung haben die EU und die Schweiz keinen Weg gefunden, ihre Beziehung auf eine stabile und dauerhafte Basis zu stellen, die weiter reicht als die sektoriellen bilateralen Verträge, die nach dem Urteil der EU keine Zukunft besitzen. Ohne rechtliches Gerüst für ihre Weiterentwicklung und Erneuerung drohen diese zu verkümmern und letztlich jegliche Substanz zu verlieren, sodass die Schweiz ohne festen wirtschaftlichen und politischen Partner dastünde: als «Drittstaat» inmitten Europas.
Im Zentrum des Disputs: die Souveränität, ein Begriff, der allen Ländern der Welt teuer ist, dessen Wert sie indes in einer Kosten-Nutzen-Rechnung kühl abwägen und je nach ihrer Grösse und ihrem Gewicht modulieren. In der Schweiz hat die Diskussion vor 30 Jahren, als sich die Frage des Beitritts zum Europäischen Wirtschaftsraum stellte, eine entscheidende Wende genommen. Der damalige Bundesrat beschrieb das Dilemma mit der Frage, die bis heute nicht an Gültigkeit eingebüsst hat: Ist die Schweiz souveräner als Mitglied einer europäischen Verbindung, deren Politik sie mit vollen Rechten mitgestalten könnte – oder im Gegenteil als unabhängiger Staat, der aber für den Zugang zum grossen Markt den von anderen gestellten Bedingungen unterworfen ist? Ist der sogenannte autonome Nachvollzug von Regeln der anderen ein Zeichen von Souveränität oder vielmehr eines von Abhängigkeit?
Diese Fragen wurden wieder und wieder debattiert – und anschliessend überdeckt vom vorübergehenden Erfolg des sektoriellen bilateralen Wegs. Er war für die Schweiz so vorteilhaft, dass sie es versäumte, sich dessen mögliches Ende überhaupt nur vorzustellen. Von dem Moment an, als der Bundesrat unter dem Druck der Europagegner jegliche Perspektive eines Beitritts aufgab, war auch für die Europäische Union klar, dass der Bilateralismus kein Übergangsregime mehr war. Sie konnte der Schweiz folglich keine Ausnahmen mehr zugestehen, in deren Genuss nicht auch ihre Mitgliedstaaten kämen.
Das Institutionelle Rahmenabkommen, das das Gleichgewicht zwischen den wirtschaftlichen Bedürfnissen der Schweiz und den Gleichbehandlungsbedürfnissen der EU wiederherstellen sollte, wurde in der Schweiz als nicht hinnehmbarer Souveränitätsverlust wahrgenommen – allerdings einer überhöhten Souveränität, die sich um jegliches politische und moralische Engagement gegenüber jenen, auf deren Werk ihr Wohlstand ebenfalls beruht, foutiert; einer Souveränität, die den Einfluss der Macht auf das internationale Recht zu ignorieren scheint; und einer Souveränität, die die realen Opfer der Schwächsten ignoriert.
Das Scheitern des Institutionellen Abkommens wird Gewinner und Verlierer hervorbringen – bezüglich Beschäftigung, Wettbewerbsfähigkeit, Bildung, Forschung und nicht zuletzt der schweizerischen Diplomatie, deren Ruf als verlässliche Partnerin gelitten haben dürfte. Erst die spürbaren Folgen werden zeigen, was die von den Abkommensgegnern verteidigte Souveränität wirklich bedeutet – sowohl innerhalb als auch ausserhalb der Schweiz. Die EU dürfte nicht bereit sein, die Gespräche mit einem Partner, den sie als unberechenbar erfahren hat, wieder aufzunehmen, ohne sich zuvor entsprechend abzusichern.
In ihrer Geschichte hat sich die Schweiz Allianzen fast immer widersetzt. Ob sie dies auch weiterhin wird tun können, wird sich weisen. Ihre Neutralität stammt aus Zeiten, die von Konflikten in der Nachbarschaft geprägt waren. Heute ist sie von der Europäischen Union umgeben, die sich den Frieden zur Aufgabe gemacht hat.