Читать книгу Eine Aussenpolitik für die Schweiz im 21. Jahrhundert - Группа авторов - Страница 16
Multilaterale Integration und Weg in die Isolation 1920–1948
ОглавлениеEine Konsequenz des Ersten Weltkriegs war die Ideologisierung der Welt und der Machtpolitik der Grossmächte. Für die bislang nüchterne Souveränitäts- und Handelspolitik der Schweiz hatte dies mindestens mittelfristig einige Konsequenzen. Zuerst einmal zeigte sie offensichtliche Schwierigkeiten, die Folgen der Russischen Revolution und die neu gegründete Sowjetunion anzuerkennen. Die Verletzung des unantastbaren Eigentumsrechts förderte in der Schweiz einen virulenten Antikommunismus. Bis 1946 gehörte das Land daher zu den wenigen Staaten, die die UdSSR diplomatisch nicht anerkannten, obschon sich diese Politik jeglicher Neutralitätslogik radikal widersetzte.
Neben der Ideologisierung traten mit dem Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker und der Gründung des Völkerbunds weitere neue und universelle Dimensionen in die internationalen Beziehungen. Konflikte sollten nicht mehr bilateral, sondern multilateral in einem System kollektiver Sicherheit gelöst werden. Insofern traten die Mitgliedstaaten Souveränität an eine internationale Organisation ab. Dem Vorsteher des Politischen Departements Gustav Ador (1917), aber insbesondere seinem Nachfolger Felix Calonder (1918–1919) gelang es, die Schweiz über eine erfolgreiche Volksabstimmung in den Völkerbund zu führen und Genf den Sitz des Völkerbunds zu sichern. Die Volksabstimmung wäre rechtlich nicht zwingend gewesen, sie erlaubte es dem Bundesrat jedoch, den Völkerbundmächten 1920 die explizite Anerkennung der dem Prinzip der kollektiven Sicherheit zuwiderlaufenden Neutralität abzuringen,5 womit die Überhöhung dieses aussenpolitischen Instruments konstituiert wurde. Unter dem Etikett einer «differentiellen Neutralität» setzte die Schweiz durch, allfälligen militärischen Sanktionen des Völkerbunds nicht folgen zu müssen, während sie sich dazu verpflichtete, wirtschaftliche Sanktionen solidarisch mitzutragen. Da spätestens nach der Ablehnung des Beitritts durch die USA eigentlich nie alle Grossmächte (gleichzeitig) Mitglieder im Völkerbund waren, nutzte die Schweiz unter der Führung von Bundesrat Giuseppe Motta (1920–1940) den Neutralitätsdiskurs zunehmend als Instrument der Abgrenzung gegen multilaterale Bestrebungen zur kollektiven Sicherheit. Die Rückkehr 1938 zu einer «integralen Neutralität» angesichts der wachsenden Spannungen in Europa und der Welt brachte die schweizerische Aussenpolitik definitiv zurück zum Primat der Souveränität.
Der Erste Weltkrieg und der anschliessende Friedensprozess lösten in vielen Staaten Entwicklungen zu mehr Demokratie aus. In der Schweiz betraf dies neben der Einführung des Proporzwahlrechts für den Nationalrat insbesondere die Aussenpolitik. Am 30. Januar 1921 nahm der Souverän die eidgenössische Volksinitiative für die «Unterstellung von unbefristeten oder für eine Dauer von mehr als 15 Jahren abgeschlossenen Staatsverträge unter das Referendum (Staatsvertragsreferendum)» mit 71,4 Prozent Ja-Stimmen-Anteil und der Zustimmung fast aller Stände an. Mit diesem klaren Votum für aussenpolitische Mitbestimmung begann die lange Diskussion um die Ausgestaltung der Mitwirkung der Stimmbevölkerung beim Abschluss bilateraler oder multinationaler Verträge und damit der Interpretation der Grenzen der Souveränität im Einzelfall.
Wirtschaftspolitisch bedeutete die Zwischenkriegszeit eine Gratwanderung zwischen dem spätestens mit der Weltwirtschaftskrise verbreiteten Protektionismus, dem sich auch die Schweiz nicht entziehen konnte, und der Aufrechterhaltung des unentbehrlichen Aussenhandels. In den 1930er-Jahren schloss das Land sowohl mit dem nationalsozialistischen Deutschland als auch mit dem faschistischen Italien Clearingabkommen zur Sicherung der Handelsbeziehungen ab. Diese innenpolitisch wichtigen Vereinbarungen erkaufte sich das Land durch die damit gewährten grosszügigen, aber im kommenden Weltkrieg neutralitätspolitisch letztlich heiklen Clearingkredite an die späteren Achsenmächte. Insgesamt löste der Bilateralismus den Multilateralismus zu grossen Teilen ab, obschon multilaterale Netzwerke weiter existierten. Es gelang der Schweiz aber nicht, die politisch immer wieder postulierte Äquidistanz zu den späteren Kriegslagern zu halten. Somit geriet die Aussenpolitik mit dem Kriegsausbruch rasch in Schieflage, und ihre einseitige Ausrichtung und wirtschaftlichen Abhängigkeiten traten sichtbar an die Oberfläche, obschon das Land etwa durch Schutzmachtmandate oder den Abschuss einiger den Schweizer Luftraum verletzender Flugzeuge der deutschen Luftwaffe 1940 punktuell Eigenständigkeit zu markieren versuchte. Der Abzug internationaler Organisationen, wie zum Beispiel des Internationalen Arbeitsamts (ILO), nach Übersee und Grossbritannien erwies sich ebenfalls als nachteilig. Einerseits rückte die Schweiz damit noch näher an die faschistisch und nationalsozialistisch geprägten internationalen Netzwerke, andererseits verschob sich das Zentrum des Multilateralismus aus Europa weg nach Nordamerika und entfernte sich so aus dem schweizerischen Einflussgebiet, was die Position des Landes schwächte.