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Aussenpolitische Neuorientierung nach 1989

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Obschon sich der Zerfall der Sowjetunion und des Ostblocks seit der Mitte der 1980er-Jahre abgezeichnet hatte, überraschte der Fall der Berliner Mauer 1989 die Weltöffentlichkeit. Das Ende der Ost-West-Bipolarität erwischte die Schweiz auf dem falschen Fuss. Der Fichenskandal (1989/90) offenbarte das problematische Treiben des Staatsschutzes, der Privatpersonen und Organisationen bei der Ausübung ihrer demokratischen Rechte observiert hatte, was in diesen Kreisen zu einem breiten Boykott gegen die 700-Jahrfeier der Eidgenossenschaft (1991) führte. Die Euphorie des Mauerfalls brachte zudem eine weitere politische Erschütterung: Im November 1989 votierten 35,6 Prozent der Stimmenden für die Volksinitiative für eine «Schweiz ohne Armee und für eine umfassende Friedenspolitik». Die Schweizer Armee, die Garantin der bewaffneten Neutralität, war massiv infrage gestellt. 1996 setzte mit der Kontroverse über den Umgang mit nachrichtenlosen Konten von Opfern des nationalsozialistischen Terrors zudem eine fundamentale Infragestellung der Rolle der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs ein. All diese Entwicklungen wären während des Kalten Kriegs undenkbar gewesen. Der Ost-West-Konflikt hatte die Handlungen und Wahrnehmungen über Jahrzehnte geprägt und somit letztlich zwischenstaatliche, aber auch Konflikte innerhalb von Staaten verzerrt. Ungebremst traten sie jetzt, angefangen mit den blutigen und komplexen Konflikten in der Golfregion, in (Ex-)Jugoslawien und Ruanda, an die Oberfläche und forderten von der internationalen Diplomatie neue Lösungsansätze und Vorgehensweisen. Das traditionelle Völkerrecht wurde durch die vermehrt transnationalen und innerstaatlichen Kriege herausgefordert.

Da das Gleichgewicht der Supermächte nicht mehr spielte und die Zahl der relevanten Akteure sprunghaft anstieg, gewannen zu Beginn der 1990er-Jahre die UNO und damit der Multilateralismus wieder an Gewicht. In der Schweiz wurde dieser Wechsel durchaus wahrgenommen. Bereits während des Golfkriegs 1990/91 beschloss der Bundesrat den autonomen Nachvollzug der Wirtschaftssanktionen der UNO. 1998 kommunizierte der Bundesrat das Ziel einer UNO-Mitgliedschaft, worauf ein Komitee eine Volksinitiative für den Beitritt lancierte. Im März 2002 nahmen Volk und Stände die Initiative an. Nachdem die Schweiz nach einer Volksabstimmung 1992 bereits den Bretton-Woods-Institutionen – Internationaler Währungsfonds (IWF) und Weltbank – beigetreten war, bedeutete der UNO-Beitritt die logische innenpolitische Fortsetzung und die Beendigung einer international einmaligen Ausnahmesituation. Der Beitritt der Schweiz zur UNO im Jahr 2002 (vgl. Kapitel 3) führte auch zu einer markanten Ausweitung der aussenpolitischen Ziele, die sich ipso facto durch die breit gefächerte UNO-Agenda ergab. Seit 1996 nahm die Schweiz sogar im sensiblen Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik an der Partnerschaft für den Frieden mit NATO-Staaten teil.

Im Unterschied zur erfolgreichen Integration in Organisationen mit globaler Ausrichtung, die erst in den 2010er-Jahren wieder vermehrt kritisiert wurde, verlief die Annäherung an Europa konträr. Nach einer äusserst emotionalen Abstimmungskampagne lehnte 1992 die Schweizer Stimmbevölkerung die Ratifizierung des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) knapp mit 50,3 Prozent ab, wobei das Nein der Kantone deutlich ausfiel. Dieser Entscheid kann als einer der folgenreichsten der neueren Schweizer Geschichte bezeichnet werden. Es war das erste Mal, dass mit den Mitteln der direkten Demokratie erfolgreich und unmittelbar in die Aussenhandelspolitik eingegriffen wurde. Für die Schweizer Diplomatie bedeutete dies eine grosse Herausforderung für zukünftige Verhandlungen. Bundesrat und Parlament beschlossen zwar aus wirtschaftlichen Gründen den autonomen Nachvollzug eines grossen Teils der EU-Gesetzgebung, aber das Land entwickelte sich zu einem unsicheren Partner im europäischen Einigungsprozess. Die Zustimmung zu den bilateralen Verträgen mit der EU im Jahr 2000 stellte daher einen grundlegenden Schritt für die gegenseitige Vertrauensbildung dar, der aber seither wiederholt mit Argumenten der Souveränität und Neutralität sowie Überfremdungsängsten politisch infrage gestellt wurde.

Die humanitäre Dimension der Aussenpolitik gewann ebenfalls an Bedeutung angesichts der Gräuel, die sich nach der Wende von 1989 beispielsweise im ehemaligen Jugoslawien, in der Kaukasusregion oder im Nahen Osten abspielten. In ihrer Agenda 2005 hielt die UNO fest, dass die Bedrohungen von Frieden und Sicherheit im 21. Jahrhundert nicht nur internationale Kriege und Konflikte einschlossen, «sondern auch Terrorismus, Massenvernichtungswaffen, organisiertes Verbrechen und häusliche Gewalt. Sie umfassen auch Armut, tödliche Infektionskrankheiten und Umweltverschmutzung, da diese Gefahren ebenfalls katastrophale Folgen haben können. Alle diese Bedrohungen können zum Tod führen oder das Leben massiv einschränken. Alle können sie den Staat als Grundstein des internationalen Systems unterminieren.»

Auf diese neuen Herausforderungen reagierte die Schweiz mit einem erweiterten Sicherheitsbegriff und der Stärkung der Dimension der «menschlichen Sicherheit» innerhalb des Aussendepartements sowie einem aktiven und sichtbaren internationalen Engagement, das an die Tradition der Guten Dienste und des humanitären Völkerrechts anknüpfte. Diese Politik war nun innenpolitisch vertretbar – nicht zuletzt, weil sie das weiterhin herrschende Neutralitätsnarrativ nicht gefährdete, sondern sinnstiftend mit neuem Inhalt füllte.

Eine Aussenpolitik für die Schweiz im 21. Jahrhundert

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