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Bundesrat Ignazio Cassis

Schweizer Selbstverständnis auf der Bühne der Grossen

Wieso braucht ein kleines Land wie die Schweiz eine Aussenpolitik? Immerhin sind wir weder eine Grossmacht, noch hegen wir Ambitionen, die Welt in einem helvetischen Feldzug einzunehmen. Zudem geht es uns gut, so wie es ist. Die Schweiz ist eines der sichersten und wohlhabendsten Länder der Welt, das Vertrauen in unsere Institutionen ist hoch, und die Aussichten für die kommenden Generationen stehen gut. Die Schweiz, ein Erfolgsmodell. Gerade auch, weil es uns über Generationen hinweg möglich war, den Spagat zwischen internationaler Beziehungspflege und nationaler Souveränität erfolgreich zu gestalten. Ein Balanceakt. Agil variierend zwischen Souveränität, Neutralität, Aussenhandel und humanitärem Engagement gelingt es der Schweiz seit 1848, ihre Rolle auf dem globalen Parkett vielfältig zu gestalten. Ein Engagement, das direkten Einfluss auf die Prosperität unseres Landes hat – nicht umsonst waren Aussenpolitik und Aussenhandelspolitik lange Zeit fast ein und dasselbe Thema.

Allerdings sind Wohlstand, Souveränität und Sicherheit nicht gottgegeben. Sie bedingen viel Arbeit und setzen ein intensives Bewusstsein dessen voraus, wer wir sind und was wir wollen. Es gelingt den Autoren dieses Buchs, auf den folgenden Seiten illustrativ wiederzugeben, wie sich die Schweiz im Verlauf ihrer Geschichte nicht nur durch Abgrenzung definiert hat, sondern vor allem durch die vielfältigen Beziehungen, die sie zu gestalten vermag. Selbstreflexion im Widerschein des Andersseins; stets eingebettet in einen historischen und geopolitischen Kontext. So ist die Schweiz zwar nicht Teil der Europäischen Union, nichtsdestotrotz aber Teil des europäischen Kontinents, Teil von Europa. Wir sind Subjekt und Objekt einer globalen Weltordnung. Eine Welt, die je länger, je rauer wird, fragmentierter und vor allem unberechenbarer. Geopolitische Spannungen nehmen zu, Handelskonflikte verschärfen sich, und Eckpfeiler der internationalen Ordnung wie das Völkerrecht oder der Multilateralismus werden infrage gestellt. Gleichzeitig verschärfen sich ökologische Entwicklungen. Dafür bieten neue Technologien aber auch neue Chancen.

Die Welt ist im Wandel. Diese Entwicklungen spürt auch die Schweiz. Der Wohlstand und die politische Stabilität in unserem Land hängen stark davon ab, was in unserer geopolitischen Umwelt passiert. Uns mit der Aussenpolitik zu befassen, heisst also, uns mit uns selbst zu befassen. Damit wir als kleines Land global eine selbstbewusste Rolle einnehmen können, müssen wir wissen, was wir wollen. «Wenn du nicht weisst, wo du hinwillst, dann ist es egal, welchen Weg du einschlägst. Jeder wird falsch sein», sagt die Katze zum kleinen Mädchen im Kinderbuchklassiker Alice im Wunderland. Wie Alice will auch die Schweiz ihren Platz in Europa und in der Welt selbstbestimmt und eigenständig festlegen. Das bedeutet, sie muss den Veränderungen in der Welt begegnen und Antworten auf neue Herausforderungen finden. Die Aussenpolitik wird für den Wohlstand und die Stabilität in der Schweiz in Zukunft noch wichtiger werden.

Nur, wo wollen wir denn nun hin? Was sind die Ziele unserer Aussenpolitik? Und vor allem, in was für einer Welt werden wir diese gestalten? Das vorliegende Werk geht auf Herausforderungen und Chancen ein, die die Schweizer Aussenpolitik des 21. Jahrhunderts prägen werden. Es sind Fragen, die auch ich mir gestellt habe, als ich Ende 2017 die Leitung des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) übernommen habe. Klar ist, in einem globalen Umfeld, das verstärkt von Machtpolitik geprägt ist, muss die Schweiz geeint auftreten, ihre Interessen kennen und wissen, wie sie ihre Ziele erreichen will. Unsere aussenpolitische Vision (AVIS 28)1 ist die Antwort auf Herausforderungen und Chancen, die dieser Wandel bietet, sie ist die Vorstellung des Zustands, den wir erreichen wollen. Entstanden ist ein Sechs-Punkte-Plan, der als Diskussionsgrundlage dient, wenn es darum geht, wo wir die Schweiz auf dem globalen Parkett des 21. Jahrhunderts sehen.

•Klar definierte Interessen und Prioritäten: Die Schweiz ist keine Grossmacht. Sie kann aber durchaus in der Liga der Grossen spielen. Sie ist lösungsorientiert, innovativ, weltoffen und einem klaren Wertekompass verpflichtet: Sicherheit, Wohlfahrt und Unabhängigkeit. Der Schlüssel zum Erfolg ist eine intelligente Kombination aus Eigenständigkeit und Vernetzung. Die Schweizer Aussenpolitik setzt daher klare thematische und regionale Prioritäten. Wir müssen nicht überall auf der Welt aktiv sein, sondern dort, wo wir aktiv sind, einen Mehrwert bieten.

•Verschränkung von Aussen- und Innenpolitik: Aussenpolitik ist Innenpolitik. Um international geschlossen auftreten zu können, muss das aussenpolitische Vorgehen innenpolitisch mitgetragen sein. Dabei sind Zielkonflikte vorprogrammiert. Das ist weder neu noch schlecht. Zahlreiche Beispiele im vorliegenden Werk zeigen eindrücklich, wie interne Diskussionen in der Schweiz ihre Politik über die Landesgrenzen hinaus geprägt haben. Zielkonflikte sind Ausdruck einer funktionierenden pluralistischen Gesellschaft. Ziel ist es nicht, diese Konflikte zu verhindern, Ziel ist viel eher, diesen Diskurs transparent und partizipativ zu gestalten. Bundesrat, Parlament, Kantone, Wissenschaft, das internationale Genf, die Wirtschaft, NGOs und die Bevölkerung – sie alle sind in die Ausgestaltung der Schweizer Aussenpolitik miteinbezogen. Das schafft ein gemeinsames Verständnis und eine gemeinsame Verantwortlichkeit.

•Bürger und Wirtschaft stärker im Fokus: Dienstleistungen für Schweizerinnen und Schweizer im Ausland sowie die enge Zusammenarbeit mit der Wirtschaft sind wichtige Stärken der Schweizer Aussenpolitik. Über die Hälfte unseres Bruttoinlandprodukts erwirtschaften wir im Ausland. Die Schweizer Exportwirtschaft trägt damit massgeblich zum Wohlstand der Schweiz bei. Umgekehrt ist der Privatsektor ein wichtiger Partner bei der Entwicklungszusammenarbeit – gerade bei den nachhaltigen Entwicklungszielen der Agenda 2030, beim Klimaschutz oder bei den Menschenrechten.

•Schweizer Soft Power für eine friedlichere Welt: Die Schweiz verfügt über eine hohe Glaubwürdigkeit als Brückenbauerin. Unsere Guten Dienste und unser Engagement für Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte werden ebenso geschätzt wie unsere schnelle und unbürokratische humanitäre Hilfe oder die nachhaltige Entwicklungszusammenarbeit. Als neutraler Standort ist die Schweiz eine wichtige Partnerin für diskrete Verhandlungen und ein wichtiger Gaststaat für internationale Organisationen. Das internationale Genf ist ein führender und innovativer Gouvernanzstandort – sowohl in der analogen als auch in der digitalen Welt.

•Technologie als neues Themenfeld: Neue Technologien bieten mehr als nur neue Arbeitsinstrumente, sie verändern grundlegend, wie wir zusammenleben und unsere Beziehungen pflegen. Mit ihren Technischen Hochschulen und diversen Forschungsstätten ist die Schweiz prädestiniert, wenn es um die Erforschung neuer Technologien geht. Diese führende Rolle gilt es in der Aussenpolitik zu nutzen und das internationale Genf als Hub der globalen Digitalisierungs- und Technologiedebatten zu positionieren, als Entwicklungsort des neuen Fachbereichs Science Diplomacy. Denn die Risiken im Zusammenhang mit den neuen Technologien sind zwar nicht zu unterschätzen, es gilt aber vor allem, diese gewinnbringend zugunsten des Menschen zu nutzen.

•Selbstbewusst mit und gegenüber Europa: Die Schweiz ist geografisch und kulturell ein europäisches Land, wir teilen kulturelle Werte und Interessen. Gerade die Covid-19-Pandemie hat einmal mehr deutlich gemacht, wie wichtig gute Beziehungen zu unseren Nachbarstaaten sind. Solche Beziehungen baut man nicht in Krisenzeiten auf, sie sind das Ergebnis einer langjährigen Partnerschaft auf Augenhöhe. Eine Kooperation, die insbesondere auch im wirtschaftlichen Bereich von zentraler Bedeutung ist. Für unseren Wohlstand bleibt der gegenseitige Zugang zum Markt daher elementar – ist die EU doch der mit Abstand wichtigste Handelspartner der Schweiz. Aber auch in vielen anderen Bereichen wie der Bildung, der Kultur oder der Wissenschaft arbeitet die Schweiz eng mit ihren europäischen Nachbarn zusammen. Es sind diese Kooperationsmöglichkeiten, die es uns erlauben, unsere Anliegen, unsere Expertise und unsere Mitarbeit in die Ausgestaltung der europäischen Politik einzubringen. So trägt die Schweiz dazu bei, dass Europa als Wirtschafts- und Innovationsstandort auf globaler Bühne geschlossen und überzeugend auftreten kann. Gerade in einer sich fragmentierenden globalen Weltordnung ist ein starkes und geeintes Europa im ureigenen Interesse der Schweiz – für ihre Unabhängigkeit, ihre Sicherheit und ihre gemeinsame Wohlfahrt. Eine langjährige Beziehung zweier souveräner Partner, gezeichnet durch die Suche nach dem optimalen Gleichgewicht zwischen weitreichendem Marktzugang und der Wahrung grösstmöglicher politischer Eigenständigkeit. Eine Beziehung in Freundschaft und Nachbarschaft.

In einer zunehmend instabilen Welt muss die Schweiz ihre Interessen präzise definieren. Sie muss aus einer klar definierten, innenpolitisch verankerten Position heraus agieren und sich dabei auf ihre Stärken und Werte abstützen können. Mit einer wirksamen Aussenpolitik fördern wir die Stabilität in der Welt und damit auch Sicherheit und Wohlstand in der Schweiz.

Anmerkung

1 https://www.eda.admin.ch/avis28 (abgerufen am 11.6.2021).

Eine Aussenpolitik für die Schweiz im 21. Jahrhundert

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