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Christa Markwalder, Nationalrätin, Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Aussenpolitik Für eine mutige schweizerische Aussenpolitik im 21. Jahrhundert
ОглавлениеWährend der weltweit wütenden Corona-Pandemie ist uns die Verletzlichkeit unserer Gesellschaft, die Wichtigkeit transnationaler Wertschöpfungsketten und die Notwendigkeit internationaler Forschungszusammenarbeit für die rasche Entwicklung von Impfstoffen konkret vor Augen geführt worden.
In der Pandemiebekämpfung zeigen sich Stärken – gewiss auch Schwächen – internationaler Abmachungen und Vereinbarungen. Wie werden diese umgesetzt und eingehalten? So hat die Pandemie auch hierzulande nationalistische Reflexe befeuert mit dem Hochziehen von Grenzzäunen und dem temporären Erlass von strikten Einreiseverboten.
Umso wichtiger ist die Öffnung unseres aussenpolitischen Horizonts auf ein «bigger picture», das die geopolitischen Machtverschiebungen im Auge hat, sodass die Schweiz ihre ökonomischen wie ökologischen und sicherheitspolitischen Interessen weiterhin wahren kann. Das kann für unsere stolze Demokratie selbstverständlich nur im Einklang mit den verfassungsmässigen aussenpolitischen Zielsetzungen der Schweiz erfolgen, nämlich mit der Demokratie- und Friedensförderung, der Achtung der Menschenrechte, der Verringerung der Armut und dem Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen.
Die Welt ist spätestens im 21. Jahrhundert zu einem globalen Dorf geworden. Dank neuer Technologien, Kommunikationsplattformen und der internationalen Arbeitsteilung werden den heutigen Generationen Chancen und Möglichkeiten eröffnet, die in der Geschichte einzigartig sind.
Die ökonomische Vernetzung der Systeme und globale Wertschöpfungsketten haben sich während der Pandemie ausbezahlt. Und noch weitaus wichtiger: Sie haben im letzten Jahrhundert zur Friedenssicherung wie auch der generellen Vermehrung des Wohlstands gedient. Das erkannten bereits die Gründerväter der heutigen Europäischen Union mit der Schaffung der Montanunion 1951.
Wie wichtig der Schutz von Menschenrechten und individuellen Freiheiten ist, wurde von der UNO nach zwei verheerenden Weltkriegen im letzten Jahrhundert in ihrer Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948 festgehalten und vom Europarat in der Europäischen Menschenrechtskonvention 1950 völkerrechtlich verankert.
Eine regelbasierte Weltwirtschaftsordnung sollte mit dem General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) 1947 eingeführt werden, die Welthandelsorganisation WTO mit Sitz in Genf hat 1995 diese völkerrechtliche Vereinbarung in eine internationale Organisation überführt.
Angesichts der Umweltverschmutzungen des Industriezeitalters und der weltweiten Klimaerwärmung kam die Völkergemeinschaft am Gipfel von Rio 1992 überein, eine Agenda 21 zu entwerfen sowie Übereinkommen über Klimaänderungen und biologische Vielfalt zu verabschieden. Für einen wirksamen Klimaschutz wurde das Kyoto-Protokoll 1997 konkretisiert und mit dem Pariser Klimaabkommen 2015 festgehalten, dass bis 2050 durch eine sukzessive Reduktion der Treibhausgase eine Begrenzung der Klimaerwärmung auf 1,5 Grad angestrebt wird.
Mit den UNO-Millenniumszielen und seit 2016 mit den 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDGs) wird die «Transformation unserer Welt» angestrebt. Auf die Umsetzung dieser Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung haben sich alle UNO-Länder verpflichtet. Nebst Zielen wie Frieden, Armutsbekämpfung und Bildung stehen auch die Beschäftigung, Industrialisierung und das Wirtschaftswachstum auf der Agenda.
Rückblickend zeigen sich in einer Zwischenbilanz die Fortschritte in Zahlen und Fakten. Die weltweite Armut konnte deutlich reduziert werden. 1990 lebte fast die Hälfte der Weltbevölkerung in extremer Armut, heute sind es weniger als 10 Prozent. Dazu ist die Kindersterblichkeit massiv zurückgegangen, der Zugang zur Schulbildung für alle Kinder wird immer besser, der Mittelstand ist stark gewachsen und die Lebenserwartung deutlich gestiegen.
Doch in der Post-Corona-Welt bleibt die Lage fragil. Neue geopolitische Mächteverhältnisse wirken wie tektonische Platten. Zu den politisch-seismischen Aktivitäten gehören neue Konflikte und Spannungen wie der Handelskonflikt zwischen den USA und China, der Brexit, die russische Besetzung der Krim, Kriege in Nahost, die autokratischen Verhältnisse in der Türkei, die Reaktionen auf militärische Putsche wie in Myanmar sowie die Zunahme von nationalistischen und populistischen Kräften – auch in den europäischen Demokratien.
Rüstungsausgaben stiegen trotz Abkommen über nukleare Abrüstung auf über 2 Billionen Franken, ein Niveau, das zuletzt während des Kalten Kriegs erreicht wurde. Gemäss Lagebericht des Nachrichtendienstes des Bundes sind Terrorismus, Cyberwar, Spionage und gewalttätiger Extremismus weiterhin ernst zu nehmende Gefahren. Mit steigender Nachfrage nach Rohstoffen und Energie zeichnen sich Ressourcenkonflikte, aber auch Hungersnöte ab. In diesen Kontext sind auch Grossprojekte wie die «Neue Seidenstrasse», die Gas-Pipeline Nord Stream 2 oder der Istanbul-Kanal einzuordnen. Nicht zuletzt hängt über den Finanzsystemen, mit den massiv gestiegenen Staatsschulden und erweiterten Geldmengen der Nationalbanken, ein Damoklesschwert.
Umso wichtiger ist das aktive und mutige Auftreten der Schweiz in der Aussenpolitik. Es ist die beste Versicherung für unser Land. Um für das latente «Erdbebenrisiko» vorbereitet zu sein, gilt es die noch vorhandenen Trümpfe zu spielen: Kooperation, Innovation und Goodwill.
Kooperation ist der wichtigste Pfeiler. Die Schweiz sollte sich weiterhin engagiert als international offene Partnerin an Verträgen, Vereinbarungen, Konventionen und gemeinsamen Abkommen aktiv beteiligen mit politischen, wirtschaftlichen und auch sozialen oder kulturellen Inhalten, sei dies in bi- oder multilateraler Form.
Auch wenn die Schweiz kein Gründungsstaat der Montanunion war: Die kontinentale Neuordnung kam auch ihr zugute, sie blieb bis zum heutigen Tag vom Krieg verschont, sie verharrt aber zunehmend in einer Beobachterrolle und lässt Gestaltungskraft vermissen. Die verlorene EWR-Abstimmung 1992 konnte dank bilateraler Verträge abgefedert werden. Der Zugang zum wichtigen EU-Binnenmarkt war damit immerhin sektoriell sichergestellt. Doch die Verträge, die gern als Brücken dargestellt werden, werden brüchig, und die grösseren und kleineren Risse können rasch zu einem Einbruch führen. Einzelne Verbindungen wie die Börsenäquivalenz, das Mobilitätsprogramm Erasmus oder die gegenseitige Anerkennung von Normen sind bereits eingestürzt oder stark gefährdet, die Arbeiten für die neu geplanten Brücken in Form einzelner Sektorabkommen wie im Strombereich sistiert.
Als selbst ernannte Insel in Europa kann sich die Schweiz keine weiteren Brückeneinstürze leisten, und bereits gekappte Übergänge müssen auf einem soliden Fundament neu gebaut werden. Das Rahmenabkommen hätte den eminent wichtigen EU-Binnenmarktzugang weiterhin sicherstellen sollen. Welche Lösung wir mit der EU finden werden, ist offen. Ebenfalls fraglich ist, ob wir ohne diese Rechtssicherheit und wegen des verspielten Vertrauens durch den einseitigen Verhandlungsabbruch des Bundesrats gegenüber der EU weiterhin in der Liga der globalisiertesten Länder der Welt verbleiben können.
Nebst dem EU-Binnenmarktzugang zählen auch starke Beziehungen mit Staaten auf der ganzen Welt. Durch diese kohärente und auf Kooperation ausgerichtete Aussenpolitik mit derzeit über 32 Freihandelsabkommen mit 42 Partnern können wir neue Märkte für unsere Wirtschaft erschliessen. Mit dem Freihandelsabkommen mit Indonesien ratifizierten wir zum ersten Mal ein Abkommen mit Nachhaltigkeitszielen, notabene mit einem Land, das bald gleich viele Einwohnerinnen und Einwohner wie die USA haben wird. Diesen Weg gilt es konsequent weiterzuverfolgen, mit Malaysia, Südamerika (Mercosur) und den USA. Davon profitiert letztlich die ganze Schweiz, insbesondere unsere innovativen KMUs, auch in Randregionen.
Erneut sieht sich die Schweiz unter Druck angesichts der Forderung der OECD nach einer globalen Firmen-Mindestbesteuerung, die von den G-7 bereits auf 15 Prozent festgelegt wurde. Diese hätte unmittelbaren Einfluss auf den interkantonalen Steuerwettbewerb und den Unternehmensstandort Schweiz. 2009 haben wir mit der Abschaffung des Ausland-Bankgeheimnisses hautnah miterlebt, wie schnell der weltweite Druck zu Praxisänderungen führt.
Innovativ bleiben wir nur mit Investitionen aus dem öffentlichen und privaten Sektor in den Rohstoff Bildung. Dabei gilt es die internationale Zusammenarbeit im Bildungsbereich und den Zugang zum europäischen Forschungsprogramm Horizon Europe zu sichern. Der starke Bildungs- und Forschungsstandort mit renommierten Hochschulen und Universitäten ist und bleibt ein gewichtiger Standortvorteil.
Goodwill schafft die Schweiz mit ihrer Neutralität und den verschiedenen Schutzmachtmandaten, aber auch als stolzer Sitzstaat des Völkerbunds und des europäischen Sitzes der UNO sowie von zahlreichen weiteren internationalen Organisationen wie der WTO, WHO und der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich. Und obwohl wir erst seit 2002 offizielles UNO-Mitglied sind, wagen wir 2023/24 die Kandidatur für den UNO-Sicherheitsrat. Auch damit stärken wir unsere Verhandlungsposition.
Kooperation, Innovation und Goodwill kommen aber nicht von allein. Sie benötigen eine mutige und weitsichtige Aussenpolitik und grosses Engagement. Die SGA leistet mit ihrer Arbeit einen kleinen, aber umso wichtigeren Beitrag dazu. Dies tut sie auch mit diesem Buch und Nachschlagewerk, das zu neuen Ansätzen und Lösungen in der Aussenpolitik anregen soll. Es steht in der Tradition des von der SGA 1975 und 1992 vorgelegten Handbuchs der schweizerischen Aussenpolitik. Ich danke allen, die zur Realisation dieses neuen Wegweisers beigetragen haben – und Ihnen allen, die sich an der Debatte über die schweizerische Aussenpolitik im 21. Jahrhundert beteiligen!