Читать книгу Eine Aussenpolitik für die Schweiz im 21. Jahrhundert - Группа авторов - Страница 18
Normalisierung der Aussenpolitik 1965–1989
ОглавлениеDas Jahrzehnt zwischen der Mitte der 1960er- bis zur Mitte der 1970er-Jahre ist ein Dezennium der Transition und kann – in Anlehnung an Reinhart Koselleck – als «Sattelzeit der schweizerischen Aussenpolitik» definiert werden, mit einem Übergang von der traditionellen, durch die Neutralitätsüberhöhung und aussenpolitische Abstinenz gekennzeichneten Ausprägung zu einer in ihrer Strategie und Praxis modernen, mit anderen Staaten vergleichbaren Aussenpolitik. Bereits Aussenminister Friedrich Traugott Wahlen (1962–1965) brach 1963 mit seiner Teilnahme am Staatsbegräbnis von Präsident John F. Kennedy mit der schweizerischen diplomatischen Usanz der höchsten Zurückhaltung.9 Auch trat die Schweiz im gleichen Jahr dem Europarat bei. Es waren jedoch die sozialdemokratischen Bundesräte Willy Spühler (1966–1970), Pierre Graber (1970–1978), Pierre Aubert (1978–1987) und René Felber (1988–1993), die, in Zusammenarbeit mit einer neuen Generation von Diplomaten und sehr wenigen Diplomatinnen, die Praktiken der schweizerischen Aussenpolitik den internationalen Gepflogenheiten anglichen. Trotz Dissonanzen in der Öffentlichkeit hielten Entwicklungszusammenarbeit, Staatsbesuche und die Partizipation an multilateralen Debatten zunehmend Einzug in die Aussenpolitik.
Es war insbesondere die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die eine entscheidende Wende für die Schweizer Aussenpolitik brachte. Der KSZE-Prozess, der zur Vertrauensbildung und politischen Annäherung zwischen den 35 beteiligten Staaten beitragen sollte, verlieh den Kräften im Aussenministerium, die sich für eine Öffnung und Entwicklung der Aussenpolitik jenseits des Neutralitätsdogmas einsetzten, kräftigen Auftrieb. Paradoxerweise bot gerade die KSZE mit ihrer Ost-West-Beteiligung hierfür einen günstigen Rahmen. Seit der Genfer Abrüstungskonferenz 1962 gab es nämlich im Kalten Krieg vermehrt Phasen der Entspannung zwischen den ideologischen Blöcken, die letztlich in die Schlussakte von Helsinki 1975 münden sollten. Durch die Beteiligung beider Lager an diesem Prozess wurde das bisher angeführte Neutralitätsargument gegen die Partizipation an multilateralen Organisationen obsolet. Entsprechend ergriff die Schweizer Diplomatie die sich bietende Chance, den Multilateralismus zu stärken, der nicht zuletzt als Surrogat für die fehlende und weiterhin nicht realisierbare Mitgliedschaft in der UNO diente. Den Beitritt zu den Vereinten Nationen lehnte die Stimmbevölkerung 1986, nach einer heftigen Debatte um Neutralität und Sonderfall, mit 75,7 Prozent und allen Ständen wuchtig ab.10
Schliesslich ratifizierte die Schweiz 1974 die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), nachdem mit der Einführung des Stimm- und Wahlrechts für Frauen 1971 das grösste Hindernis beseitigt worden war. 1977 trat das Land dem Atomwaffensperrvertrag bei, lange nachdem der Bundesrat diesen 1969 unterzeichnet hatte. Im Zuge der neuen Menschenrechtspolitik des US-Präsidenten Jimmy Carter markierte in der Schweiz spätestens der Amtsantritt von Bundesrat Pierre Aubert 1978 den Beginn aktiver Initiativen auf diesem Gebiet sowie den Ausbau der Kontakte mit Entwicklungs- und Schwellenländern. Eine regelmässige Berichterstattung der Botschaften und Konsulate über die lokale Menschenrechtslage nahm ihren Anfang. Dieses Engagement erhielt auch Unterstützung in der Bevölkerung, kollidierte aber immer wieder mit der gleichzeitig postulierten Universalität der Wirtschaftsbeziehungen und dem Neutralitätsprinzip, was den Vorrang der Wirtschaftsinteressen gegenüber den Menschenrechten somit legitimierte. Paradigmatisch zeigte sich dies auch im schweizerischen Umgang mit dem Apartheidregime in Südafrika, das international geächtet war. Die Ausnutzung der formellen Handlungsfreiheit als Nichtmitglied der UNO und die Verfolgung rein wirtschaftlicher Interessen brachten der Schweiz international hohen Reputationsschaden.
Vor allem in den 1970er-Jahren wurden im Prozess der europäischen Einigung wesentliche Integrationsschritte erzielt, an denen die Schweiz partizipierte und somit wirtschaftlich profitierte. Die Einbindung in den zusammenwachsenden europäischen Wirtschaftsraum und die Zusammenarbeit mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) waren für die Schweiz gerade nach den beiden Ölkrisen 1973 und 1979 und den jeweils folgenden Rezessionen zentral. Durch die Entspannung zwischen den USA und China in der Folge des Vietnamkriegs geriet zudem China, mit dem die Schweiz als einer der ersten westlichen Staaten bereits 1950 diplomatische Beziehungen aufgenommen hatte, verstärkt in den Blick der Handelsdiplomatie. Die neue Reisetätigkeit des Bundesrats zeigte sich hier besonders intensiv mit dem Besuch von zwei amtierenden und zwei ehemaligen Bundesräten in Peking innerhalb zweier Jahre. 1980 schloss eine Schweizer Firma als erstes westliches Industrieunternehmen ein Joint Venture mit einem Betrieb in der Volksrepublik China ab.
In die Zeit der 1970er-Jahre fiel auch die neue Erfahrung mit internationalem Terrorismus, als palästinensische Gruppen Attentate auch auf Schweizer Ziele verübten.11 Hier wurde unmittelbar klar, dass jenseits der traditionellen Kriegsführung die Neutralität kein Garant für Sicherheit war. Der Nahostkonflikt stand bisher kaum auf der aussenpolitischen Agenda, und eine aktivere Aussenpolitik erwies sich als zwingend für Krisensituationen. Die Normalisierung der schweizerischen Aussenpolitik wurde 1979 durch eine Verwaltungsreform und die Umbenennung des Aussenministeriums vom Eidgenössischen Politischen Departement zum Departement für auswärtige Angelegenheiten formell vollendet.
Insgesamt verfolgte das Land Ende der 1980er-Jahre eine breitere Palette aussenpolitischer Ziele, als dies Anfang der 1960er-Jahre noch denkbar gewesen wäre. Die aktivere und selbstbewusstere Beteiligung der Schweiz an der internationalen Politik sollte aber über die Persistenz der traditionellen Neutralitätsinterpretation nicht hinwegtäuschen, deren Legitimität die Bipolarität des Kalten Kriegs nochmals kräftig gefördert hatte. Das neutralitätspolitische Masternarrativ blieb bestehen. Deshalb wurde die stärkere Öffnung von der Bevölkerung zwar toleriert, aber nicht mit Überzeugung getragen. Die Überhöhung der Neutralität durch den permanenten Diskurs seit der Politik der Geistigen Landesverteidigung in den 1930er-Jahren war zu stark in der politischen Kultur verankert, wie beispielsweise das an alle Haushalte verteilte Zivilverteidigungsbuch von 1969 mit seinem Widerstandsdiskurs oder die UNO-Debatte 1986 wieder deutlich zeigten.