Читать книгу Eine Aussenpolitik für die Schweiz im 21. Jahrhundert - Группа авторов - Страница 15
Im Primat der Souveränität 1848–1919
ОглавлениеIm Grunde war die – namentlich unerwähnte – Aussenpolitik eine der wenigen Kompetenzen, die die erste Bundesverfassung von 1848 (und ihre Totalrevision von 1874) dem Bund zuwies, obschon gleichzeitig sogar auf diesem Gebiet kantonale Restkompetenzen beibehalten wurden. Der Bund erhielt in Artikel 8 das Recht, Krieg zu führen und Frieden zu schliessen sowie Bündnisse und Staatsverträge, namentlich Zoll- und Handelsverträge, mit dem Ausland einzugehen. Artikel 2 definierte den übergeordneten Zweck des Bundes: die «Unabhängigkeit des Vaterlandes gegen aussen» zu behaupten, «Ruhe und Ordnung im Innern» zu sichern, «Freiheit» und «Rechte» zu schützen und die «Wohlfahrt» zu bewahren. Die Schweiz im 19. Jahrhundert war nicht Teil der europäischen Pentarchie und somit als Aussenstehende eher Objekt als Subjekt der internationalen Beziehungen, wie schon der Wiener Kongress 1815 gezeigt hatte. Die moderne Schweiz von 1848 entwickelte sich in, aber auch wegen der Auseinandersetzungen der Grossmächte seit der Französischen Revolution. Daher stand die Bewahrung der Souveränität im Zentrum aller Handlungen. Dies bedeutete die Durchsetzung und Sicherung von Interessen und die Behauptung der eigenen Aktionsfähigkeit, selbst wenn diese gegen eine Grossmacht gerichtet war. So bewies der junge Bundesstaat zum Beispiel sowohl im Konflikt mit Preussen um die Zugehörigkeit von Neuenburg 1856/57,1 der Internierung der französischen Bourbaki-Armee 18712 als auch im Konflikt um einen deutschen Polizeibeamten 18893 («Wohlgemuth-Affäre») seine Eigenständigkeit. Ebenfalls war er bereit, liberale Migranten aus den konservativen Nachbarstaaten unter Inkaufnahme deren politischer Verstimmung aufzunehmen.
Dieses durchaus selbstbewusste Auftreten sollte aber nicht über die strukturellen Schwächen der aussenpolitischen Administration hinwegtäuschen: Das Politische Departement bestand nur aus wenigen Beamten. Ebenfalls behielten die Kantone wichtige Kompetenzen im Wehrbereich, was die Handlungsfähigkeit des Bundes gegen aussen bei der Notwendigkeit eines Souveränitätsschutzes erschwerte. Die Verfassung trug gerade bei den Artikeln zum Militär explizite Spuren des vorangegangenen Sonderbundskriegs 1847/48, der die Spaltung des Landes zwischen liberalen und konservativen Kantonen offenbart hatte. Die Bewahrung der Neutralität gegen aussen diente somit auch der Sicherung der Ruhe im Innern, um das Land zusammenwachsen zu lassen und mit beachtlichem Erfolg die industrielle Entwicklung vorantreiben zu können. Gleichzeitig konsolidierte sich das politische System auf Bundesebene, verbunden mit einer wachsenden Demokratisierung, verkörpert in der Einführung des Referendums 1874 und der Ausweitung des Initiativrechts 1891. Die sich daraus zunehmend ergebende Bindung der Aussenpolitik an direktdemokratische Mechanismen und damit an eine mehrheitsfähige gesellschaftliche und zeitgebundene Akzeptanz prägte eine schweizerische Besonderheit im internationalen Umfeld, die vor allem im 20. und 21. Jahrhundert determinierend wurde. Neben der demokratischen Rückkoppelung bildeten sich drei weitere Konstanten der schweizerischen Aussenpolitik bereits im langen 19. Jahrhundert prägnant aus: einerseits die wirtschaftspolitische Dominanz, ferner die starke Fokussierung auf das internationale Recht und drittens der Umweg über den «technischen» Multilateralismus, den liberalen «Internationalismus» des 19. Jahrhunderts.
Wirtschaftlich war die moderne Schweiz keineswegs ein «Kleinstaat». Sie verfügte über eine beachtliche Produktions- und Kaufkraft, während sie gleichzeitig von funktionierenden Importen und Exporten abhängig war. Aussenpolitik war daher früh primär Aussenhandelspolitik, die durch ein weltweites dichtes Netz von Honorarkonsuln sichergestellt wurde, die in Miliztradition die fehlenden professionellen Gesandten kompensierten. Für die Schweiz mit ihrem bescheidenen Politischen Departement bedeutete das System der lokal verankerten Honorarkonsuln eine kostengünstige und effektive Variante internationaler Präsenz und der Förderung von diversen wirtschaftlichen Aktivitäten sowie der Beziehungspflege mit den rasch wachsenden Schweizer Kolonien im Ausland im Zuge der grossen Auswanderungswellen nach Übersee und Europa. Hingegen war dadurch – ausser der unter dem Banner eines vagen Neutralitätsdiskurses geführten Handelspolitik – kaum eine kohärente und koordinierte Aussenpolitik möglich.
Die Aussenhandelspolitik der Schweiz war auf stabile internationale Rahmenbedingungen ausgerichtet, die der eigenen Wirtschaft die notwendige Sicherheit gaben. Im Zentrum schweizerischer Bestrebungen lagen daher verbindliche Abkommen, um einen ausreichenden Schutz vor den Grossmächten zu erreichen. Internationales Recht kompensierte die fehlende Macht, weshalb sich die Schweiz früh aktiv in die Prozesse zur Ausprägung des Völkerrechts einbrachte. Gegen innen und aussen (auch langfristig) kommunikativ erfolgreich war dabei insbesondere der Einsatz für das humanitäre Völkerrecht, angefangen mit der Genfer Konvention von 1864 (Rotes Kreuz) und den Haager Konventionen von 1899 und 1907, die auch die Rechte des Neutralen in Kriegszeiten völkerrechtlich verbrieften.
Ebenfalls kompensierte die Schweiz ihre fehlende «grosse» Aussenpolitik mit einem beachtlichen Engagement im aufkommenden liberalen Internationalismus. Insbesondere Bundesrat Numa Droz (1876–1892) verstand es, dieser Seite der Diplomatie ein grösseres Gewicht zu verleihen. Nachdem er 1887 als Bundespräsident turnusgemäss das Politische Departement übernommen hatte, behielt er das neu als Departement des Äusseren bezeichnete Aussenministerium bis zu seinem Rücktritt aus dem Bundesrat 1892. Der liberale Internationalismus diente einerseits mit seiner technischen Dimension der Industriemacht Schweiz, indem er Normen festlegte und förderte, die für den internationalen Handel unabdingbar waren. Andererseits ermöglichte er Staaten ausserhalb des Zirkels der Grossmächte, zentrale Positionen als Sitznationen internationaler Organisationen einzunehmen. In dynamischer Konkurrenz insbesondere mit Frankreich und Belgien legte die Schweiz im 19. Jahrhundert den Grundstein für Genf als späteren Sitz des Völkerbunds und weiterer staatenübergreifender Organisationen. In Bern befanden sich die Sitze der ersten internationalen Organisationen, etwa des bedeutenden Internationalen Telegraphenvereins (1865), des Weltpostvereins (1874) und des Büros zum Schutz des geistigen Eigentums (1883), die sich unter der Oberaufsicht des Bundesrats befanden und entsprechend dessen internationale Einflussnahme förderten.
Wie in der Aussenhandelspolitik mit den Honorarkonsuln engagierten sich im liberalen Internationalismus zahlreiche Privatpersonen, die aufgrund ihrer Expertise durch den Bundesrat an die zahlreichen Kongresse und Konferenzen als offizielle staatliche Vertreter und – sehr selten – Vertreterinnen delegiert wurden. Ihre Interessen deckten sich wissentlich nicht immer vollständig mit den offiziellen Zielen, was jedoch weitgehend in Kauf genommen und toleriert wurde. Wie in vielen anderen Politikbereichen existierte somit auch in der Aussenpolitik ein beachtlicher Anteil an «Milizakteuren», was eine grosse Flexibilität ermöglichte. Erst in der Folge der Weltkriege und insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg setzte eine breite Professionalisierung des diplomatischen Korps ein.
Bis zum Ersten Weltkrieg dominierten in den Aussenbeziehungen Souveränitätssicherung und Aussenhandelspolitik, die von einem weiten Netz von Privatpersonen getragen und nur partiell von einem sehr kleinen Politischen Departement gesteuert wurden, das der Bundespräsident sozusagen im Nebenjob führte. Internationale Erfolge, wie die Errichtung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) oder die Ansiedlung bedeutender internationaler Organisationen, gelangen unter Berufung auf die Neutralität. Der Erste Weltkrieg erschütterte in einer frühen Phase die Ausrichtung der Aussenpolitik auf die Souveränitätsfrage nicht. Die schweizerische Neutralität wurde von allen Kriegsparteien anerkannt. Die Folgen der engen wirtschaftlichen Verflechtungen konnten gelöst und die Landesversorgung weitgehend gesichert werden, obschon sie beträchtliche Einbussen bezüglich der Souveränität brachten. So überwachte beispielsweise die Société suisse de surveillance économique im Auftrag der Entente-Mächte den Schweizer Handel mit den Zentralmächten. Die Zerrissenheit des Landes zwischen den Landesteilen und die ungelösten sozialen Fragen liessen die Innenpolitik in den Vordergrund rücken. Verletzungen der Neutralität, etwa die Begünstigung Deutschlands in der «Grimm-Hoffmann-Affäre»,4 die zum Rücktritt des «Kriegsaussenministers» Arthur Hoffmann (1914–1917) führte, sind entsprechend in diesen Zusammenhang zu stellen.