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Die Neutralitätsdoktrin in der Nachkriegszeit

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Am Ende des Kriegs befand sich die Schweiz in einer schier ausweglosen Lage. Aufgrund der Nähe zu den Achsenmächten während des Konflikts gestalteten sich die Beziehungen zu den Siegermächten schwierig. Zudem unterhielt sie keine diplomatischen Beziehungen zur Sowjetunion. Ihrer Isolation versuchte sie mit einem Rechtfertigungsdiskurs zu begegnen, der nun auf einem verabsolutierten Neutralitätsbegriff basierte. Begünstigt durch die weltpolitische Konstellation, gelang es der Schweiz 1946, mit dem Washingtoner Abkommen6 die Beziehungen zu den USA zu normalisieren und parallel mit der Sowjetunion neu aufzunehmen.7 Paradoxerweise führten die Erfahrungen der Zwischenkriegszeit und des Kriegs nicht zu einer flexibleren Auslegung der Neutralität, sondern zu ihrer definitiven dogmatischen Emporstilisierung, die zuweilen Elemente einer politischen Religion aufwies. Nebst den legitimatorischen aussenpolitischen Gründen war dies insbesondere auch eine Folge der instrumentalen Nutzung der Neutralität als Grundpfeiler der Geistigen Landesverteidigung. Diese Säule des inneren Zusammenhalts konnte nicht mehr zugunsten einer grösseren aussenpolitischen Offenheit relativiert werden und entwickelte sich somit endgültig zum konstitutiv verstandenen Element des schweizerischen Staatsverständnisses. Der Bundesrat hielt mit einer derartigen Eigenwilligkeit an diesem absoluten Neutralitätsbegriff fest, dass selbst Handlungen nicht kommuniziert werden sollten, die das Land international in ein besseres Licht gestellt und näher zu den Alliierten gerückt hätten – wie u. a. die Rettung ungarischer Juden durch den Diplomaten Carl Lutz oder die Vermittlung der Kapitulation der Wehrmacht in Norditalien durch den Offizier Max Waibel.

Die beiden Weltkriege offenbarten schmerzlich das Fehlen einer funktionierenden und strategisch ausgerichteten Aussenpolitik. Nach dem Rücktritt des umstrittenen Bundesrats Marcel Pilet-Golaz (1940–1944) Ende 1944 übernahm der Neuenburger Freisinnige Max Petitpierre (1945–1961) die Aufgabe, die Aussenpolitik neu zu positionieren. Diese lange Ära dauerte schliesslich bis 1961 und wirkte prägend für die gesamte Nachkriegszeit. Nachdem die Beziehungen zu den Siegermächten – nicht zuletzt im Rahmen des einsetzenden Kalten Kriegs – normalisiert werden konnten, ging es um die schweizerische Positionierung in der neuen internationalen Konstellation der ideologischen Blöcke. Obschon die Schweiz faktisch den politischen Entscheiden der USA folgte und sich wirtschaftlich vollständig ins westliche Lager integrierte, pflegte sie das Narrativ einer neutralitätspolitischen Äquidistanz zu den Supermächten. Dabei gewannen die in der Kriegszeit erfolgreich etablierten Guten Dienste an Bedeutung und dienten als Argument für die Vorteile eines neutralen Landes inmitten Europas. Ihr Engagement in Korea oder Kuba, aber auch die Etablierung als wichtiger Standort für internationale Konferenzen stärkten die Stellung der Schweiz und festigten Genf als zweiten Sitz der UNO. Auf der anderen Seite wurde auch deutlich, dass, je besser die multilateralen Instrumente der kollektiven Friedenssicherung in der UNO funktionierten, desto irrelevanter die Guten Dienste des Neutralen wurden.

Mit der Nachkriegszeit begann eine Professionalisierung und auch eine breitere soziale Abstützung der Mitarbeitenden des diplomatischen Korps. Parallel spielten die Wirtschaftsverbände, die ihren Einfluss durch die Handelsabteilung im Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartement praktisch unmittelbar ausüben konnten, immer noch eine gewichtige Rolle in der Aussenpolitik, und die Bedeutung der Handelspolitik blieb ungebrochen. Das Land – obwohl politisch international isoliert – verfügte 1945 mit einer starken und frei konvertiblen Währung sowie einer kaum geschädigten Produktionskraft über eine privilegierte wirtschaftliche Ausgangslage, die es zu nutzen wusste.

Nach dem missglückten Versuch 1946, einen UNO-Beitritt mit einem Neutralitätsvorbehalt wie im Völkerbund anzustreben,8 partizipierte die Schweiz – anders als etwa das neutrale Schweden, das im gleichen Jahr der Organisation beitrat – nicht am neuen multilateralen UN-System und entzog sich dadurch weitgehend den aufkommenden internationalen Debatten über Menschenrechte (1948) und Dekolonisierung (1960). Sie blieb aber Mitglied aller aus der Ära des Völkerbunds weiterbestehenden technischen und humanitären internationalen Organisationen, trat auch neuen bei und konnte gar hohe Funktionen in der UNO mit Schweizer Diplomaten besetzen, wie etwa den Hochkommissaren für Flüchtlinge Felix Schnyder und August Lindt. Somit beteiligte sie sich über die Hintertür vermeintlich «technischer» Organisationen am Multilateralismus, ohne dabei politisch Stellung beziehen zu müssen. Entsprechend lange betrachtete die schweizerische Diplomatie etwa die Einhaltung von Menschenrechten als grundsätzlich binnenstaatliche Angelegenheit, die somit unter die Logik neutralitätspolitischer Abstinenz fiel. Das fehlende Stimm- und Wahlrecht der Frauen trug nicht unwesentlich zu dieser defensiven Haltung bei, da das Land damit selbst die geltenden Standards krass verletzte.

Eine Aussenpolitik für die Schweiz im 21. Jahrhundert

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