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Wachablösung bei den Grossmächten

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Unter US-Präsident Donald Trump hat sich dieser Konflikt im wirtschaftlichen Bereich verschärft; unter Präsident Biden wird der chinesisch-amerikanische Wettbewerb auf der Ebene der Werte fortgesetzt. Die Vereinigten Staaten nehmen die Idee der «Gemeinschaft der Demokratien», die im Juni 2000 an der Konferenz von Warschau lanciert worden war, wieder auf und erklären die demokratischen Prinzipien zu ihrer Priorität, die es gegen die Bedrohung durch autoritäre Mächte zu verteidigen gelte. Sie sehen sich dazu legitimiert durch Pekings Repression gegen die Autonomie von Hongkong, die brutale Internierung von Uiguren in Xinjiang, die Bedrohung von Taiwan und die Desinformationen der chinesischen Regierung während der Covid-19-Pandemie.

Das chinesische Regime seinerseits forciert den Primat seiner nationalen Tradition und scheut in seiner Propaganda gegen die fremden liberalen Werte keinen Aufwand. Nur wirtschaftlich verfolgt China eine Internationalisierungsstrategie mit dem Ziel, im Jahr 2049, der Hundertjahrfeier der Gründung der Volksrepublik, zu den Industrieländern des Westens aufgeschlossen zu haben. Gleichsam als Etappe auf diesem Weg läuft das Wirtschafts- und Technologieprogramm «Made in China 2025». Mit beträchtlichen Währungsreserven versehen, präsentieren sich die staatlichen oder staatlich gesteuerten Unternehmen einem grossen Teil der Welt als wirtschaftliche Partner erster Wahl. Dabei dienen die Direktinvestitionen in den Industrienationen, auch der Schweiz, als Wachstumsmotoren und Innovationstreiber; die Finanzierung oder der Erwerb von Infrastrukturen für Schifffahrt und Bahn im Rahmen der «neuen Seidenstrasse» erweitern Zugänge zu Märkten; und sie geben Gelegenheit, auf die überschuldeten Staaten Druck auszuüben.

Ob sich die Demokratien von den USA gegen einen geoökonomischen Akteur der Dimension Chinas einspannen lassen, ist offen. Dessen Machtzuwachs und die amerikanische Gegenoffensive machen es Europa – und auch der Schweiz – jedenfalls nicht einfacher, die heikle Balance zwischen Interessen und Werten zu wahren, besonders wenn es um die Beachtung der Menschenrechte geht. Damit ist auch unklar, wie sich die transatlantischen Beziehungen entwickeln werden, wenn die USA und Europa über den Umgang mit China unterschiedlicher Meinung sind. Bei seinem ersten Besuch in Brüssel im April 2021 bemühte sich der amerikanische Staatssekretär Antony Blinken darum zu versichern, dass Washington keinerlei Blockbildung erzwingen werde. Vielmehr lud er die Führungen der EU und der NATO dazu ein, seine Vision der Beziehungen mit Peking zu teilen: «Konkurrenz, wenn der Regelfall herrscht, Kooperation, wenn es möglich ist, Feindseligkeit, wenn es notwendig ist.» – ein Spektrum von Situationen, offen für alle Nuancen der Interpretation. So hatte sich die EU im Frühjahr 2021 den USA angeschlossen und ebenfalls Sanktionen gegen die Verantwortlichen der Unterdrückung in Xinjiang verhängt. Wie wird sich die Schweiz verhalten? Wird sie interne Massnahmen ergreifen – wie etwa anlässlich der europäisch-amerikanischen Sanktionen gegen russische Persönlichkeiten –, um niemanden zu vergraulen?

In dieser Systemkonkurrenz spielt die Eidgenossenschaft ihren Solopart, auch wenn sie durch ihr geopolitisches und ideologisches Umfeld starken Zwängen ausgesetzt ist. Ihre «China-Strategie 2021–2024» stellt die wirtschaftliche Zusammenarbeit formell in den Rahmen der «Grundwerte, wie sie in der Bundesverfassung stehen». Was aber, wenn die genannten Werte in China auf taube Ohren stossen? Wie will die Schweiz, wie es die Strategie bekräftigt, «eine eigenständige Politik verfolgen», ohne Gefahr zu laufen, sich von der EU oder den USA zu entfremden? Diese Partner sind wirtschaftlich und politisch ungleich grösserer Bedeutung.

Die gleiche Frage lässt sich mit Blick auf die Beziehungen zu Russland stellen, auch wenn sie nach den Erfahrungen des Kalten Kriegs weniger neu ist. Trotz seiner Grösse verfügt Russland nach wie vor über eine ungenügende Wirtschaftskraft, um im Ringen um die globale Vorherrschaft ins Gewicht zu fallen. Seine Industrieproduktion ist nicht auf den Export und internationalen Massenkonsum ausgerichtet. Nur die Rohstoffe – Gas, Öl und Kohle – verschaffen ihm noch die Möglichkeit, Einfluss auf das Verhalten bestimmter Länder in Europa und der übrigen Welt zu nehmen. Die Konkurrenz durch saubere Energien wird aber auch dieses Druckmittel schwächen. Hingegen erlauben es ihm seine geheimdienstlichen Aktivitäten, sich als ernst zu nehmender politischer Akteur zu positionieren und seine Rivalität gegenüber dem Westen zur Schau zu tragen.

Russlands militärische Interventionen im Nahen Osten zur Unterstützung der syrischen Diktatur wie auch seine Destabilisierungsversuche durch Cyberoperationen in Europa und den USA untermauern die Strategie, den Gegensatz der Werte aufrechtzuerhalten, ja zu verstärken. In territorialer Hinsicht gibt sich Russland einen Blankoscheck, um sich in seiner selbst definierten Einflusszone, die vom Baltikum über das Schwarze Meer bis zum Mittelmeer reicht, in Vormacht zu bringen. Als eine der fünf offiziellen Atommächte schwächt es den Sicherheitsrat zusätzlich und bringt die UNO sowie das Völkerrecht ins Wanken.

Werden die Demokratien Russland die Stirn bieten? Und wie wird sich die Schweiz verhalten? Ob sie ihre in der Vergangenheit stets anerkannte vermittelnde Rolle, die sie als Mitglied der beiden europäischen Institutionen OSZE und Europarat einnahm, wieder aufnehmen kann, wenn die Spannungen in offene Kriegshandlungen münden, ist unklar. Die Schweiz hat sich in beiden Organisationen stark engagiert und ihr Vermittlungstalent zum Tragen gebracht. Angesichts der neuen Machtverhältnisse sind die Organisationen jedoch selbst geschwächt.

Die Europäische Union ist zwar drittgrösste Handelsmacht der Welt; 20 Millionen Unternehmen haben einen hindernisfreien Zugang zu einem Markt von 450 Millionen Konsumenten. Dennoch hat sie sich nicht zu einer strategischen Gemeinschaft entwickelt, die eine ihrer Grösse entsprechende politische Macht zur Geltung bringen könnte. Sie wird nach wie vor von ihren Mitgliedern und deren unterschiedlichen Zielen und Kulturen bestimmt. 2020 musste sie gar den Austritt des Vereinigten Königreichs hinnehmen. Bis heute gelingt es ihr nicht, eine gemeinsame Sicht auf die Welt einzunehmen und sich als einen ernst zu nehmenden politischen Akteur in Position zu bringen. Ihre inneren Konflikte zwischen dem Norden und dem Süden, dem Westen und dem Osten lähmen ihre Aussenpolitik. Der Preis für ihren Erfolg als Friedensprojekt ist ihre geopolitische Uneinigkeit.

Die Ziele und Stärken der EU liegen anderswo. Sie wächst mit jeder Krise mehr zusammen, indem sie Institutionen schafft, die bei der Krisenbewältigung helfen. Sie entwickelt ein mächtiges Normensystem, das Schule macht: Die meisten Wirtschaftssektoren, die am europäischen Binnenmarkt teilnehmen möchten, müssen zwingende Normen und Richtlinien befolgen, die unter den Mitgliedstaaten gebührend und lange ausgehandelt worden sind. Die europäische Regulierung (von Medizin, Finanzen, Technik, Gesundheit, Recht usw.) verleiht der Union die Macht – und die Reputation –, die ihrer Diplomatie und ihrer Verteidigung fehlen. Die EU ist somit, was ihre Vergangenheit und ihre Gegenwart angeht, als Staatenverbund solide. Was ihre Zukunft betrifft, ist sie hingegen unsicher, da ihr gemeinsames Projekt ständiger Gegenstand interner Verhandlungen ist.

Eine Aussenpolitik für die Schweiz im 21. Jahrhundert

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