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Оглавление5 Planetary Health – Ein medizinischer Notfall
Christian M. Schulz und Claudia Traidl-Hoffmann
Für die Überschreitung planetarer Grenzen gibt es verschiedene Indikatoren. Sie zeigen, dass wir auf dem besten Wege sind, den Planeten zu großen Teilen unbewohnbar zu machen. Bezogen auf die Gesundheit der Erde, Planetary Health und die Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen wird daher von einem medizinischen Notfall gesprochen (Solomon u. LaRocque 2019).
5.1 Der medizinische Notfall: Definition, Dimensionen und Bewältigung
Ein medizinischer Notfall ist eine Situation, in der ein Mensch unmittelbar dem Risiko ausgesetzt ist, einen Schaden zu erleiden. Um Schaden von ihm abzuwenden, ist rasches Eingreifen erforderlich.
Manchmal, zum Beispiel bei der Notwendigkeit von Wiederbelebungsmaßnahmen, muss dieses Eingreifen sofort erfolgen, da dem Gehirn nach rund drei Minuten ohne Sauerstoff irreversibler Schaden droht. Bei anderen Notfällen ist eine Behandlung binnen Minuten oder gar Stunden ausreichend, um negative Folgen abzuwenden. Solange der Notfall nicht vollständig versorgt ist, spielt die Dimension Zeit jedoch immer eine entscheidende Rolle.
Während der Behandlung gilt es, alle Maßnahmen richtig zu priorisieren, da sie aufgrund von Platz- oder Ressourcenmangel nicht gleichzeitig durchgeführt werden können. Damit das geschehen kann, müssen die Akteur:innen über ein adäquates Bewusstsein der Situation (situational awareness) verfügen. Dabei werden drei hierarchisch angeordnete Ebenen unterschieden. Im ersten Schritt werden Informationen wahrgenommen. Im nächsten Schritt wird diese Information mithilfe von Inhalten des Langzeitgedächtnisses verarbeitet, sodass daraus ein Verständnis der aktuellen Situation resultiert. Im letzten Schritt wird versucht einzuschätzen, wie sich die Situation in den nächsten Minuten und Stunden entwickeln wird. Für die Anästhesiologie beispielsweise wurde gezeigt, dass der Mehrzahl kritischer Zwischenfälle und Schadensereignisse ein mangelndes Situationsbewusstsein der Akteur:innen vorausgeht (Schulz et al. 2017). Nur wenn Akteur:innen auf allen drei Ebenen die Situation adäquat bewerten, sind sie in der Lage, die Maßnahmen zur Bewältigung von Notfällen richtig zu priorisieren, den Ressourcenbedarf abzuschätzen und ggf. zusätzliche Ressourcen zu aktivieren.
Solidarität war immer auch ein Überlebensvorteil für Gesellschaften. Sie motiviert Menschen, gemeinsam Leben zu retten und Verschüttete zu bergen (von Westphalen 2020). Notfälle geschehen meist unerwartet. Oft gibt es mehrere Helfende, häufig treffen sie sogar nur ein einziges Mal in dieser Konstellation aufeinander und begegnen sich danach möglicherweise nie wieder. Meistens verfügen die Helfenden über ein sehr unterschiedliches Maß an Erfahrung und eine unterschiedliche Ausbildung, sie können Menschen ohne Fachkenntnisse sein, Rettungsassistent:innen mit vielen Jahren Berufserfahrung oder Notärzt:innen, die erst vor kurzem die Zusatzbezeichnung erworben haben. Diese Helfer-Teams orientieren sich in einem hohen Maß an den zur Verfügung stehenden Ressourcen der beteiligten Akteur:innen und nicht etwa an ihren Defiziten. Das hilft über alle Heterogenität der Helfenden hinweg und ist Voraussetzung, konstruktiv mit dem Nicht-Perfekt-Sein einer Notfallbehandlung umzugehen.
Für die erfolgreiche Behandlung eines Notfalls spielen die Dimensionen Zeit, Situationsbewusstsein und Solidarität eine entscheidende Rolle. Alle drei lassen sich auf den Notfall Planetary Health übertragen.
5.2 Planetary Health als medizinischer Notfall
Zeit: Die Erde ist rund 4,6 Milliarden Jahre alt. 250 Jahre Industriekapitalismus werden in der Rückschau möglicherweise ausgereicht haben, um mehrere Kipppunkte zu erreichen, die den Planeten zu großen Teilen für Menschen unbewohnbar machen. In Bezug auf ein 80-jähriges Menschenleben entspricht das ziemlich genau 3 Minuten. Zur Begrenzung der globalen Temperaturerhöhung auf 1,5°C reicht unser CO2-Budget für nur noch wenige Jahre, das entspricht 3,5 Sekunden eines Menschenlebens. Die Transformation muss also sehr schnell gehen, wenn wir bleibende Schäden mit großer Wahrscheinlichkeit verhindern wollen.
Situationsbewusstsein: Trotz aller Fortschritte gerade in den letzten Jahren reicht das Situationsbewusstsein für eine angemessene Behandlung des Notfalls noch nicht aus. Zwar sind seit bereits mehreren Dekaden alle relevanten Informationen vorhanden und vereinzelt auch das Wissen, die Informationen adäquat zu verarbeiten und den zukünftigen Verlauf abzuschätzen. Das gilt aber immer noch nicht für eine genügend große Anzahl von Akteur: innen. Die im Vergleich zur Individualversorgung viel größere Herausforderung für Planetary Health ist die angemessene Berücksichtigung der Dimension Zeit. Wir müssen innerhalb von ein bis zwei Dekaden eine große Transformation bewältigen und dabei die Trägheit gesellschaftlicher Systeme berücksichtigen (genau wie bei der Behandlung einer lebensbedrohlichen Blutung: Wir müssen die Dauer bis zum Eintreffen der Blutprodukte einkalkulieren).
Solidarität: Eine letzte Parallele zwischen individuellem und planetarem Notfall bezieht sich auf die Solidarität. Der niederländische Historiker Rutger Bregmann macht Mut:
„In Notfallsituationen kommt das Beste im Menschen zum Vorschein. Ich kenne keine andere soziologische Erkenntnis, die gleichermaßen sicher belegt ist und dennoch gänzlich ignoriert wird. Das Bild, das in den Medien gezeichnet wird, ist dem, was nach einer Katastrophe tatsächlich geschieht, diametral entgegengesetzt.“ (von Westphalen 2020).
Auch für die Bewältigung der COVID-19-Pandemie spielt neben den Faktoren Zeit und Wissenschaft Solidarität eine zentrale Rolle (Vinke et al. 2020). Bevor in einem Kraftakt in kürzester Zeit Impfstoffe in großen Mengen zur Verfügung standen, erhöhten gesamtgesellschaftliche Maßnahmen die Wirksamkeit ihrer Bekämpfung. In Bezug auf die Ökosysteme und zuvorderst die Klimakrise gilt ebenfalls, dass Solidarität ein entscheidender Faktor ist. Je mehr Menschen vor allem aus den reichen, durch einen hohen Ressourcenverbrauch gekennzeichneten Ländern sich beteiligen, desto gesünder werden weltweit die Biosphären und damit auch die Menschen sein.
Literatur
Schulz CM, Burden A, Posner KL et al. (2017) Frequency and Type of Situational Awareness Errors Contributing to Death and Brain Damage: A Closed Claims Analysis. Anesthesiology 127(2), 326–337. DOI: 10.1097/ aln.0000000000001661
Solomon CG, LaRocque RC (2019) Climate Change – A Health Emergency. N Engl J Med 380(3), 209–211. DOI: 10.1056/NEJMp1817067
Vinke K, Gabrysch S, Paoletti E, Rockström J, Schellnhuber H (2020) Corona and the Climate: A Comparison of Two Emergencies. Global Sustainability 3, E25. DOI: 10.1017/sus.2020.20
von Westphalen A (2020) Der Mensch in Zeiten der Katastrophe. URL: https://www.deutschlandfunk.de/altruismus-der-mensch-in-zeiten-der-katastrophe.1184.de.html?dram:article_id=480449 (abgerufen am 13.07.2021)