Читать книгу Bipolare Störungen - Группа авторов - Страница 51

3.3 Diskussion und Ausblick

Оглавление

Die klinisch-genetische Forschung vor allem der letzten 30 Jahre hat übereinstimmend ergeben, dass genetische Faktoren zu einem wesentlichen Teil zur Entstehung der bipolaren Störungen beitragen. Wichtig zu betonen ist dabei, dass es sich bei bipolaren Störungen nicht um eine klassische Erbkrankheit im Mendelschen Sinne, sondern um eine multifaktoriell bedingte Erkrankung mit einem Zusammenwirken von zahlreichen Umweltfaktoren und Genen handelt.

Molekulargenetische Befunde sind damit vereinbar, dass Varianten in Vulnerabilitätsgenen das Risiko für die Erkrankung um einen Faktor kleiner als 1,5, also um weniger als 50 % erhöhen. Derzeit ist trotz der Identifikation von einigen wenigen zuverlässig replizierten Risiko-Loci und möglichen Vulnerabilitätsgenen das Netzwerk der komplex-genetischen Ätiologie der bipolaren Störungen mit genetischen Risikovarianten und das Risiko erhöhenden Lebensereignissen, die jedoch durch protektive Genvarianten und die Resilienz erhöhende Umwelteinflüsse antagonisiert werden können, lediglich ansatzweise verstanden. Zudem werden in Zukunft epigenetische Prozesse deutlich mehr mit in Rechnung gestellt werden müssen, und es wird gelten, in funktionellen Untersuchungen die Auswirkung genetisch-epigenetischer Variation im Hinblick auf eine veränderte Expression, Struktur oder Funktion des jeweiligen Proteins zu klären. Aussagen prädiktiver (z. B. in utero) oder prognostischer Art auf der Grundlage von genetischen Untersuchungen lassen sich damit aktuell und auf absehbare Zeit noch nicht treffen. Allerdings weisen die ersten pharmakogenetischen Befunde bei bipolaren Störungen auf ein erhebliches Potenzial genetischer Forschung hinsichtlich der Entwicklung innovativer Pharmakotherapien hin und könnten in Zukunft über die Definierung individueller Verläufe und Charakteristika die Voraussetzung für die Anwendung individueller Therapien und Therapiekombinationen und damit eine zunehmend personalisierte Medizin darstellen. Forschung zu den genetischen Ursachen gilt damit heute als der vielversprechendste wissenschaftliche Ansatz für die Entwicklung innovativer und individueller Therapien für Patienten mit bipolarer Störung.

Für die klinisch tätigen Kollegen und Kolleginnen stellt sich berechtigterweise immer wieder die Frage, inwieweit die bisher erzielten Befunde jenseits eines akademischen Optimismus für ihre tägliche Arbeit relevant sind. Die International Society of Psychiatric Genetics (www.ISPG.net) hat 2020 als führende Fachgesellschaft auf ihrer Webseite hierzu eine sehr lesenswerte Stellungnahme veröffentlicht (The International Society of Psychiatric Genetics 2020). Die 8-Punkt-Zusammenfassung ist im Folgenden aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt.

1. Häufige genetische Varianten für sich allein genommen reichen nicht aus, um psychiatrische Störungen wie Depressionen, bipolare Störungen, Substanzabhängigkeit oder Schizophrenie zu verursachen. Genotypen aus einer großen Anzahl von häufigen Varianten können kombiniert werden, um einen genetischen Gesamtrisikoscore zu bestimmen, der Personen mit höherem oder niedrigerem Risiko identifizieren kann. Zum jetzigen Zeitpunkt ist es allerdings noch nicht klar, ob dieser Ansatz schon eine praktische klinische Relevanz besitzt.

2. Es gibt immer mehr Hinweise darauf, dass seltene, pathogene Varianten mit großen Auswirkungen auf die Hirnfunktion bei einer signifikanten Minderheit von Personen mit psychiatrischen Störungen eine ursächliche Rolle spielen und in einigen Familien eine Hauptursache für Krankheiten sein können. Die Identifizierung bekannter pathogener Varianten kann dazu beitragen, seltene Erkrankungen zu diagnostizieren, die wichtige medizinische und psychiatrische Auswirkungen auf den einzelnen Patienten haben. Sie kann des Weiteren wichtige Hinweise für eine genetische Beratung liefern. Die Identifizierung von De-novo-Mutationen und CNVs kann für das diagnostische und therapeutische Gesamtkonzept bei schweren psychiatrischen Störungen eine wichtige Komponente darstellen. So können sich CNV-Tests auch als nützlich für Personen erweisen, die eine Beratung zu familiären Risiken wünschen. Obwohl die Experten, die diese Stellungnahme verfasst haben, keinen Konsens über den Nutzen von CNV-Tests bei Störungen im Erwachsenenalter erzielten, stimmten die meisten darin überein, dass solche Tests in Fällen von atypischer oder im Zusammenhang mit geistiger Behinderung, Autismus-Spektrum-Störung, Lernstörungen oder bestimmten medizinischen Syndromen von Nutzen sein können.

3. Professionelle Beratung kann bei der Entscheidung, sich genetischen Tests zu unterziehen und bei der Interpretation von genetischen Testergebnissen, eine wichtige Rolle spielen. Wir empfehlen, dass die Anwendung von diagnostischen oder genomweiten Gentests von einer Beratung durch Experten begleitet werden sollte, die sowohl über Fachkenntnisse im Bereich der psychischen Gesundheit als auch der Interpretation von Gentests verfügt. Eine Beratung durch einen medizinischen Genetiker wird empfohlen, wenn eine anerkannte genetische Störung festgestellt wird oder wenn Befunde reproduktive oder andere weitreichende Auswirkungen auf die Gesundheit haben.

4. Wann immer genomweite Tests durchgeführt werden, muss die Möglichkeit von Zufallsbefunden klar und offen kommuniziert werden. Die Verfahren für den Umgang mit solchen Befunden sollten genauestens erklärt werden und im Voraus mit dem Patienten oder Studienteilnehmer besprochen werden. Die Autonomie der zuständigen Personen bezüglich der Präferenzen bei der Mitteilung von zufälligen Befunden sollte respektiert werden.

5. Genetische Testergebnisse sind, wie alle medizinischen Aufzeichnungen, private Daten und müssen mit fortschrittlichen Verschlüsselungs- und Computersicherheitssystemen vor unbefugter Offenlegung geschützt werden.

6. Wir setzen uns für die Entwicklung und Verbreitung von Bildungsprogrammen und Lehrplänen ein, um das Wissen über genetische Medizin unter Auszubildenden und Fachkräften für psychische Gesundheit zu verbessern, das öffentliche Bewusstsein für Genetik und Gentests zu erhöhen und Stigmatisierung zu verringern.

7. Erweiterte Forschungsanstrengungen sind erforderlich, um relevante Gene zu identifizieren und die richtige Rolle von Gentests und ihren klinischen Nutzen in der psychiatrischen Versorgung zu klären.

8. Pharmakogenetische Tests sollten als entscheidungsunterstützendes Instrument angesehen werden, um die durchdachte Umsetzung einer guten klinischen Versorgung zu unterstützen. Wir empfehlen die Durchführung von HLA-A- und HLA-B-Tests vor der Anwendung von Carbamazepin und Oxcarbazepin in Abstimmung mit den Zulassungsbehörden und Expertengruppen. Die Evidenz zur Unterstützung der weitverbreiteten Anwendung anderer pharmakogenetischer Tests ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht schlüssig, aber wenn bereits pharmakogenetische Testergebnisse vorliegen, sollten diese Informationen zur Wahl des Medikamentes bzw. zu Dosierungsentscheidungen herangezogen werden. Genetische Informationen zu CYP2C19 und CYP2D6 liefern zum gegenwärtigen Zeitpunkt wichtige Anhaltspunkte für die Behandlung von Personen, die auf eine frühere Behandlung mit Antidepressiva oder Antipsychotika nicht oder nur unzureichend angesprochen haben bzw. oder eine unerwünschte Reaktion gezeigt haben.

Obwohl diese Stellungnahme, an der einige von uns beteiligt waren, nicht spezifisch für die bipolare Störung ist, sind wir der Ansicht, dass sie hier eine Erwähnung finden sollte, da sie den klinisch tätigen Kolleginnen und Kollegen hilft, sich im Dschungel der vielen, z. T. widersprüchlichen Befunde auf dem Gebiet der psychiatrischen Genetik zurechtzufinden und sich eine eigene Meinung zur Anwendung genetischen Wissens zu bilden, zum Nutzen und Wohle der Patienten. Wir möchten ausdrücklich darauf hinweisen, dass es sich hierbei um eine wissenschaftliche Stellungnahme handelt, die v. a. im Hinblick auf genetische Testungen keine rechtliche Relevanz besitzt. Hier muss die einschlägige Gesetzeslage (z. B. Gendiagnostikgesetz) berücksichtigt werden.

Bipolare Störungen

Подняться наверх