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Die phönizische Siedlungskolonisation im westlichen Mittelmeerraum

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Die literarischen und dokumentarischen Überlieferungen der Phönizier/Kanaanäer an der Levanteküste und auch die ihrer späteren Kolonien, der Punier (lat./etrusk. Poeni) im Westen, sind zum größten Teil untergegangen; hier klafft eine höchst fatale Lücke im Quellenbestand der Geschichte des Altertums. Die Erfassung der Geschichte der Phönizier im frühen 1. Jahrtausend v. Chr. basiert daher – abgesehen von den archäologischen Befunden – notgedrungen auf der Auswertung von Zeugnissen ihrer Nachbarn, der Partner wie der Feinde der Phönizier/Punier – von den Tatenberichten assyrischer Könige über babylonische Chroniken und Zeugnisse in der Bibel bis zur griechisch-römischen Überlieferung. In dieser finden sich für die Frühzeit immerhin nicht nur aussagekräftige Legenden über die Anfänge Karthagos und das tragische Schicksal seiner Gründerkönigin Dido/Elissa, sondern auch Notizen und Daten aus der tyrischen Stadtchronik.

Archäologische Befunde

Die archäologischen Befunde zeigen allerdings, dass die erst im 8. Jahrhundert v. Chr. voll einsetzende Siedlungsbewegung, von der Levanteküste aus in den Westen des Mittelmeerraumes, deutlich von der weitaus älteren „prä-kolonialen“ Expansionsphase der Phönizier zu unterscheiden ist. Die bis in die Zeit um 1100 hinaufreichenden Gründungsdaten für Kolonien wie Gades (heute Cádiz an der spanischen Atlantikküste) oder Utica (an der tunesischen Nordküste) haben sich offenbar auf die Einrichtung von zunächst nur saisonal genutzten Stützpunkten in dem weit entfernten Prospektions- und Handelsraum bezogen. Nach den – möglicherweise legendarisch verdichteten – Angaben in der Bibel über die zeitweilig enge Kooperation zwischen Salomon, dem Herrscher von „Groß-Israel“, und Hiram, dem Stadtkönig von Sidon-Tyros, wurden die phönizischen Fernhandelsflotten nach gründlicher Vorbereitung jeweils im Abstand von drei Jahren „auf große Fahrt“ geschickt: Dies gilt besonders für die (grundsätzlich historischen) Expeditionen zur südspanischen Region von Tarsis/Tartessos (nördlich von Cádiz). Damals wurden jedoch auch weite Fahrten – vom Hafenplatz Elath aus durch das Rote Meer – zum „Goldland von Ophir“ (an der Somaliküste oder in Südwestarabien) unternommen. Dabei ging es primär um die Gewinnung von Edelmetallen und Rohstoffen für die aufblühende handwerkliche Produktion in Phönizien sowie um die Einbringung von exotischen Prestigeobjekten wie Pfauen und Affen als Schmuck für die königlichen Hofhaltungen.

Siedlungszentren

Den Beginn einer dauerhaften phönizisch-kanaanäischen Kolonisation wird man demgegenüber mit der schon im 9. Jahrhundert ins Werk gesetzten Errichtung stark befestigter Siedlungszentren auf Zypern (Kition-Larnaka) und in Nordafrika (wahrscheinlich Utica) verbinden können. Um und nach 800 setzte dann an der südspanischen wie an der nordafrikanischen Küste eine intensive Siedlungsbewegung ein, in deren Verlauf zahlreiche, dauerhaft bewohnte Stützpunkte angelegt worden sind. Dabei lässt sich hinter den räumlichen Abständen zwischen den Niederlassungen durchaus eine koordinierende Planung erkennen. Ungefähr zur gleichen Zeit entstanden auch auf den großen Inseln westlich von Malta – vor allem in Sizilien und Sardinien – phönizische Ansiedlungen, die schon bald zu ansehnlichen städtischen Zentren erstarkten. Von deutlich anderem Charakter erweist sich dagegen die schon in den homerischen Epen bezeugte Präsenz phönizischer Kaufleute und Handwerker im griechischen Ägäisraum: Hier hat es offensichtlich keine befestigten Siedlungen und Stützpunkte gegeben. Wohl aber haben ein verstärkter Güteraustausch und die vielfach an Ort und Stelle betriebene Arbeit orientalischer Werkstätten bereits im frühen 7. Jahrhundert einen erstaunlichen Wandel in allen Bereichen des griechischen Handwerks und der bildenden Kunst herbeigeführt (Zeit des „orientalisierenden Stils“). Auf Initiativen phönizisch-kanaanäischer Händler und Handwerker dürfte darüber hinaus die Gründung von Heiligtümern in Boiotien und auf Samothrake (Heiligtümer der Kabiren, der „Großen Götter“) sowie im Isthmosbereich (für Melkart, den Stadtgott von Sidon-Tyros) zurückgehen.

Orientalischer Kultureinfluss

In ähnlicher Weise hat sich in dieser Zeit der von phönizischen Händlern und Werkstätten getragene orientalische Kultureinfluss auf die Städte und Fürstentümer Etruriens (heute: Toskana) ausgewirkt. Hier hatte sich im Gebiet eines altmediterranen Volkstums, dessen Idiom sich keiner bekannten Sprachfamilie zuordnen lässt – verstärkt durch Zuwanderer über See aus dem Osten –, schon im 10./9. Jahrhundert v. Chr. (Villanova-Kultur) eine hochentwickelte frühurbane Zivilisation herausgebildet. Auf den phönizisch-orientalischen Kultureinfluss folgte in Etrurien eine intensive Rezeption spezifisch hellenischer Handwerkskünste, Lebensweisen und Mythen-Traditionen während der Blütezeit des 6. Jahrhunderts; auch die etruskische Schrift basiert auf westgriechischen Alphabetsystemen. Selbst in der Religion, vor allem in der Ausgestaltung der obersten Götter des etruskischen Pantheons, ist der griechische Einfluss unübersehbar. Im politischen Bereich blieb es dagegen für lange Zeit bei den einmal geknüpften, engen Bündnisbeziehungen zwischen etruskischen Gemeinwesen und den Phöniziern des Westens und der gemeinsamen Frontstellung gegen die ebenfalls in den westlichen Mittelmeerraum vordringenden griechischen Kolonisten.

Bevölkerungswachstum

Eine wesentliche Voraussetzung für die phönizische Siedlungsbewegung des 8. Jahrhunderts hatte in einem starken Bevölkerungswachstum in den Metropolen der Levanteküste und ihrem näheren Umkreis bestanden; abgesehen von internen demographischen Faktoren dürfte sich hier aber auch der anhaltende Expansionsdruck des Neuassyrischen Reiches (seit dem frühen 9. Jh.) auf die aramäischen Stämme und Staaten des syrischen Hinterlandes ausgewirkt haben. Hinzu kamen die assyrischen Tributforderungen gegenüber den phönizischen Stadtstaaten, die ein verstärktes Engagement im westmediterranen Kolonialgebiet erzwangen. Jedenfalls war nun an der Levanteküste die lange, fruchtbare Phase eines machtpolitischen Vakuums zu Ende. Die über Schiffe, konkrete Erfahrungen und die erforderliche Logistik verfügende Aristokratie von Sidon-Tyros konnte ihrerseits sowohl aus der einheimischen Stadtarmut als auch aus dem Reservoir an syrischaramäischen Flüchtlingen, die vom schmalen südlichen Küstensaum der Levante aus den Heerzügen und Strafaktionen der Assyrer zu entkommen suchten, genügend Personen gewinnen, um ihre Handels- und Hafenplätze im fernen Westen dauerhaft durch Ansiedler absichern zu können. Selbstverständlich blieb die Masse dieser Neuankömmlinge in ihren isolierten – gegen das Hinterland in der Regel durch Befestigungen abgeschirmten – Wohnsitzen auf fortwährende Unterstützung seitens der adligen Unternehmer und Handelsherren aus Sidon-Tyros angewiesen.

Gründung Karthagos

Einen Sonderfall stellte demgegenüber die Gründung Karthagos an der tunesischen Nordküste dar. Nach den archäologischen Befunden dürfte hier auch das traditionelle Gründungsdatum der Ansiedlung (814) annähernd zutreffen. Diesem Kolonisationsunternehmen war angeblich, infolge eines mörderischen Streits in der Königsfamilie zwischen Dido/Elissa, der verwitweten Tochter des Königs Mutto/Mettes von Tyros, und ihrem jüngeren Bruder Pygmalion, eine tiefe Spaltung im tyrischen Adel vorausgegangen. Auch eine Kolonistenschar aus den Reihen der bereits auf Zypern ansässigen Phönizier soll sich an diesem Siedlungsprojekt beteiligt haben. Die Gestalt der tragisch und kinderlos endenden Gründerkönigin, die der Verfolgung durch ihren in Tyros gebietenden Bruder zwar entkam, sich später im aufblühenden Karthago jedoch nur durch ein Selbstopfer auf dem Scheiterhaufen vor einer aufgezwungenen Ehe und damit neuer Abhängigkeit von Seiten eines kriegerisch drohenden Nachbarkönigs retten konnte, gehört sicherlich der Sage an. Gleichwohl wird man aus den in diesem Gründungsmythos zusätzlich noch enthaltenen, authentisch wirkenden Einzelzügen erschließen dürfen, dass von Anfang an eine starke Gruppe aus den ratsfähigen tyrisch-sidonischen Adelsfamilien an dem Kolonisationsprojekt beteiligt gewesen ist und mit ihren Angehörigen auch dauerhaft in der „neuen Stadt“ (= qart-hadast, griech. Karchedón, lat. Carthago) präsent blieb.

Die Zerstörung Karthagos 146 durch die römischen Belagerer im Dritten Punischen Krieg, vor allem jedoch die Planierungsarbeiten bei der späteren Neugründung der Stadt als römische Kolonie durch Julius Caesar haben zum Teil auch die ältesten Siedlungsschichten im Innenstadtbereich vernichtet, so dass die ungewöhnlichen Ausmaße, die diese „neue Stadt“ bereits im späten 8. Jahrhundert v. Chr. erreicht hatte, sich nur in Umrissen bestimmen lassen. Die Konflikte der Mutterstadt Sidon-Tyros mit dem mächtigen Assyrerkönig Tiglatpileser III. in den 730er und 720er Jahren könnten zu dieser Zeit auch weitere Auswanderungsschübe aus Phönizien nach Karthago und in das übrige westliche Kolonisationsgebiet ausgelöst haben.

Bereits die geographisch-strategische Lage – inmitten einer großen, geschützten Hafenbucht mit ungehindertem Zugang zu einem äußerst fruchtbaren Umland – wies der „neuen Stadt“ die Rolle eines zentralen Bindegliedes zwischen den phönizischen Niederlassungen im äußersten Westen und der Heimatmetropole an der Levanteküste zu. Für die Beziehungen der Phönizier im Westen zu ihrer Mutterstadt Tyros ist es im Übrigen bezeichnend, dass nirgendwo im phönizischen Westen ein dynastisches Stadtkönigtum begründet worden ist; selbst in der mächtigen Kolonie Karthago sind am Ende alle Usurpationsversuche siegreicher Heerführer, die auf die Errichtung einer Militärmonarchie – mit der Folge einer definitiven Emanzipation von der fernen Metropole Sidon-Tyros – abzielten, am Widerstand des regierenden „republikanischen“ Ratsgremiums gescheitert. So hat Karthago über die Jahrhunderte hin an seiner politisch-rechtlichen und kultisch-religiösen Anbindung an die Mutterstadt festgehalten und dem Stadtkönig und den Göttern von Tyros alljährlich – in der spätestens am Ende des 7. Jahrhunderts erlangten und allseits anerkannten Position einer Schutzmacht der phönizischen Ansiedlungen im Westen – ansehnliche Tribute übersandt.

Ansiedlung des euboiischen Adels

Unter dem Eindruck der mit nachhaltigem Erfolg in das Westmittelmeer ausgreifenden Siedlungskolonisation der Phönizier hat schon in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts auch der euboiische Adel, der schon länger über direkte Kontakte zur Levanteküste verfügte, eine eigene, dauerhafte Ansiedlung in einem Handels- und Gewerbezentrum auf der Insel Ischia (Pithekussai) im Golf von Neapel ins Leben gerufen. Neben der Gewinnung und vorläufigen Bearbeitung von Rohstoffen wie hochwertigem Eisenerz, Kupfer und Blei – vornehmlich aus Etrurien – wurde hier freilich auch intensiv Landwirtschaft betrieben. Mit der Gründung von Kyme, der „Mutterstadt“ Neapels, der ersten griechischen Stadt auf dem italienischen Festland, setzte geradezu planmäßig der Aufbau einer Kette euboiischer Kolonien ein – von der Küstenebene Kampaniens über die Meerenge zwischen Unteritalien und Sizilien (Rhegion und Zankle, später Messana) bis an den Ostrand Siziliens (Naxos, Katane und Leontinoi) – die untereinander und mit Euboia im griechischen Mutterland verbunden blieben, da auch die Inselpolis Kerkyra (Korfu) zunächst eine euboiische Gründung war, bevor sie im 7. Jahrhundert von Korinthern besetzt wurde und wider Willen den Status einer korinthischen Tochterstadt annehmen musste. Ein weiteres Kolonisationsgebiet, das sich die euboiische Aristokratie zu erschließen suchte, war die Chalkidike-Halbinsel – zwischen dem Kerngebiet Makedoniens im Westen und der überwiegend von thrakischen Stämmen besiedelten Nordküste der Ägäis.

Die Siedler-Bevölkerung für die neugeschaffenen Stützpunkte in Unteritalien und Sizilien wurde von den euboiischen Adligen aus recht unterschiedlichen Einzugsbereichen rekrutiert – aus Nachbarregionen in Mittelgriechenland, aber auch von abhängigen Inseln (Naxos) oder Küstenstädten in Ionien (Kyme). Mit diesen Kolonisten gelangten bezeichnenderweise die Ethnonyme des südthessalischen Hellânes-Stammes und der boiotisch-attischen Graes/Graikoi in den fernen Westen, um von dort aus – über Namensbildungen wie Pan-Héllenes („All-Hellenen“) oder Megale Hellas (lat. Magna Graecia/„Groß-Hellas“), zunächst nur für einen Teil des aufblühenden Kolonialgebietes in Unteritalien) – rasch zu umfassenden Selbst- und Fremdbezeichnungen für die gesamte griechische Staaten- und Kulturwelt aufzusteigen. Zugehörigkeit zum Hellenentum wurde zur entscheidenden Voraussetzung, um an den überregionalen Opferfesten und den dazu in regelmäßigen Abständen veranstalteten Wettkämpfen im Zeusheiligtum von Olympia und in anderen berühmten Heiligtümern (Delphi, Isthmos, Nemea) aktiv teilnehmen zu können.


Sizilien.

Sprachbarrieren

Den polaren Gegenbegriff zu Pan-Héllenes (bald verkürzt zu Héllenes) bildete von Anfang an die Bezeichnung Bárbaroi. Sie verwies lautmalerisch auf die Sprachbarrieren zwischen den griechischen Neuankömmlingen und der jeweils fremden, unverständlichen Umwelt. Für die inhaltliche Bestimmung dieses für das Welt- und Selbstverständnis des Hellenentums außerordentlich wichtigen Begriffspaares sollten sich jedoch Differenzen im Kultwesen und in der Ethik, vor allem aber in der politischen und soziokulturellen Prägung als ausschlaggebend erweisen. Später, im Zeitalter der Perserkriege (s. Beitrag „Die griechische Staatenwelt bis zum Ausgang der Perserkriege“), verschärften sich die Kriterien für die Zugehörigkeit von Gemeinwesen und Geschlechtern zum Hellenentum noch erheblich. So wurden sogar die griechisch-sprachigen Makedonen, die in den Regionen nördlich und nordwestlich des Olympmassivs unter einer traditionellen Königsherrschaft in patriarchalischarchaischen Zuständen – ohne städtisch-urbane Strukturen und die Bildung eines autonomen Bürgertums – verharrten, allgemein als ein nicht-hellenisches (d.h. „barbarisches“) Volk eingestuft. Das makedonische Königsgeschlecht der Argeaden musste sich daher eigens auf eine angebliche Herkunft aus Argos und eine entsprechende Abstammung von den Herakliden berufen, um 478 v. Chr. – in Abgrenzung von den übrigen Makedonen – seine Anerkennung als hellenisches Fürstenhaus erlangen zu können und damit zur Teilnahme an den panhellenischen Festspielen in Olympia berechtigt zu sein.

Lelantische Fehde

In der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts löste sich der euboiische Stammesverband in jahrzehntelangen Kämpfen zwischen den beiden großen, miteinander rivalisierenden Poliszentren Chalkis und Eretria auf; diese sogenannte Lelantische Fehde – um die Fruchtebene zwischen den beiden Städten auf Euboia – griff auch auf das bis dahin kohärente euboiische „Kolonialreich“ im Westen über. In dem anhaltenden Streit zwischen den euboiischen Metropolen nahmen auf beiden Seiten bald auch Adelsgruppen sowohl aus den Nachbarregionen als auch aus verkehrsgünstig gelegenen Hafenstädten des griechischen Mutterlandes (insbesondere Korinth und Megara) und des Ägäisraumes Partei und drängten nun ihrerseits mit Ansiedlerscharen in den westlichen Kolonialbereich.

Orakelbescheide aus Delphi

So wurde der weitere Verlauf der griechischen Siedlungsbewegung in den westlichen Mittelmeerraum hinein durch eine bunte Vielfalt von unkoordinierten, oft heftig miteinander rivalisierenden Unternehmungen charakterisiert, die sich in der Zusammensetzung der Auswanderer-Gruppen, in ihren Motiven und soziokulturellen Prägungen erheblich voneinander unterschieden; spontane Fluchtbewegungen nach politischen Auseinandersetzungen in der Heimatpolis kamen als „Auslöser“ von Kolonisationsunternehmungen ebenso in Betracht wie akute Hungersnöte. Immerhin gab es in der griechischen Staatenwelt auf religiösem Gebiet Instanzen mit übergreifender politisch-moralischer Autorität, die im Einzelfall beträchtlichen Einfluss auf Kolonisationsunternehmungen ausüben konnten: Neben der im panhellenischen Zeusheiligtum in Olympia betriebenen Orakelstätte hatte vor allem das Apollon-Heiligtum von Delphi, am Südhang des Parnassos in der mittelgriechischen Landschaft Phokis gelegen, sich allseits hohes Ansehen erworben: Immer wieder hatten die in gebundener Sprache formulierten, freilich nur auf Anfrage erteilten Orakelbescheide aus Delphi über private und öffentliche Anliegen – auch in den zunehmenden inneren Konflikten über die Verfassungs- und Besitzordnungen der Polisstaaten – sich als kluge Ratschläge und Anweisungen bewährt. Daher reichte der Einfluss der erkennbar unabhängigen delphischen Priesterschaft, die seit ca. 590 unter der lockeren Aufsicht eines überregionalen „Umwohnerbundes“ (Amphiktyonie) stand, schon im frühen 6. Jahrhundert weit über Hellas hinaus. Sogar die mächtigen, über West-Kleinasien gebietenden Könige des Lyderreiches in Sardes – von Gyges bis Kroisos – zählten im 7./6. Jahrhundert v. Chr. neben den Pharaonen der Saiten-Dynastie zu den eifrigsten Förderern Delphis.

Fester Bestandteil der hellenischen Staatenwelt

Im späten 7. Jahrhundert umgab das Mittelmeerbecken bereits ein Kranz aufblühender griechischer Pflanzstädte (Apoikien) – abgesehen sowohl von dem in sich geschlossenen punisch-karthagischen Bereich in Nordwestafrika und Südspanien (mit Teilen Siziliens und Sardiniens) als auch von der Machtsphäre der etruskischen Städte in Italien und dem von den Assyrern gehaltenen Gebiet am Ostrand des Mittelmeeres. Die griechischen Kolonien verstanden sich freilich in dieser Phase bereits durchgehend als selbständige Polisgemeinden, die sich zwar im Hinblick auf das Kultwesen und die in der Heimat ausgebildeten Institutionen – von den öffentlichen Ämtern bis zu Kalender, Alphabetform und normierter „Staatssprache“ – jeweils an ihrer „Mutterstadt“ orientierten, im politischen und ökonomischen Bereich jedoch, auch gegenüber „Schwesterstädten“, auf ihre Unabhängigkeit bedacht waren. Selbst das Verhältnis zu den griechischen Pflanzstädten in der unmittelbaren Nachbarschaft wurde in der Regel eher von Rivalitäten und Spannungen als von Solidarität und Bündnisbeziehungen bestimmt. Weite Küstenstrecken in Unteritalien und Sizilien mit Städten wie Syrakus, Akragas (Agrigento), Selinus, Taras (Tarent), Sybaris, Kroton, Lokroi und Poseidonia (später Paestum) wurden im Verlauf des 6. Jahrhunderts zu einem festen Bestandteil der hellenischen Staatenwelt. Nordwestlich des Tyrrhenischen Meeres stieg das um 600 vom aiolischen Phokaia aus gegründete Massalia (Marseille) nahe der Rhônemündung zum hegemonialen Zentrum einer Reihe hellenischer Ansiedlungen auf und exportierte nicht allein kostbare griechische Handwerksprodukte, sondern vermittelte auch weitergehende Kultureinflüsse über Südgallien hinaus bis nach Mitteleuropa. Zur gleichen Zeit entstand im libyschen Nordafrika in der gebirgigen Küstenregion, die nach der wichtigsten Stadtsiedlung Kyrene (Mutterstadt Thera/Santorin) die Bezeichnung „Kyrenaika“ erhielt, ein eigenständiges griechisches Kolonialgebiet, das über seine Beziehungen zu den einheimischen libyschen Stämmen auch mit dem libysch-ägyptischen Heiligtum des Zeus Ammon in der Oase Siwa in Verbindung trat und dem dortigen Orakel zu wachsendem Ansehen in der griechischen Staatenwelt verhalf.


Herakles und der Stier, West-Metope des Zeustempels von Olympia. Um 460 v. Chr.

Im benachbarten Niltal hatten bereits einige Zeit zuvor schwergerüstete Söldner aus Ionien – von Lydiens Herrscher Gyges entsandt – den Freiheitskampf der Fürsten aus Sais im Nildelta (26. Dynastie: sog. „Saiten-Zeit“, 663–525) gegen die assyrischen Eroberer und Besatzer unterstützt. Nach errungenem Sieg bestanden daher in Ägypten beste Voraussetzungen nicht nur für griechische Söldner, sondern auch für Kaufleute und Unternehmer zu langfristigen Aufenthalten und wirtschaftlichen Engagements. So lassen sich schon bald danach, in der aufblühenden griechischen Großplastik des archaisch-„dädalischen“ Stils (seit der Mitte des 7. Jhs. v. Chr.) und in den neuartigen, säulenumkränzten Tempelbauten dieser Zeit, ästhetische Einflüsse und Erfahrungen aus der Begegnung zahlreicher Hellenen mit der monumentalen Kunst und Architektur Ägyptens feststellen.

Militärische Versuche der erstarkten ägyptischen Königsmacht, ihre Herrschaft auch auf Syrien auszudehnen, scheiterten an der energischen Gegenwehr des neubabylonischen Herrschers Nebukadnezar II. (605–562); ein prominentes Opfer dieser Auseinandersetzungen wurde das Königreich Juda mit seiner Hauptstadt Jerusalem (597 und definitiv 586). Dagegen gelang der Aufbau einer starken ägyptischen Seemacht, die mit der Herrschaft über Zypern auch das östliche Mittelmeer unter ihre Kontrolle brachte. Schließlich wurde unter Pharao Necho II. (609–594), in dessen Auftrag die Umsegelung Afrikas erfolgte, sogar das Projekt eines Suez-Nil-Kanals in Angriff genommen, um einen sicheren Schiffsweg vom Mittelmeer zum Roten Meer beziehungsweise zum Indischen Ozean zu eröffnen. Der Kanalbau ist jedoch erst unter dem persischen Großkönig Dareios I. (522/521–486) vollendet und dauerhaft in Nutzung genommen worden.

Psammetich I.

Die Rezeption kultureller Anregungen und Vorbilder blieb in Ägypten während des 7./6. Jahrhunderts jedoch nicht auf die griechische Seite beschränkt: Schon der erste Pharao der Saiten-Dynastie, Psammetich I. (663–609), hatte Anweisungen gegeben, dass junge Ägypter aus der Schreiber-Elite Kenntnisse in der griechischen Sprache erwerben sollten; dementsprechend lassen sich in der Folgezeit innerhalb der ägyptischen Literatur dieser Zeitstufe deutliche Einwirkungen vor allem der homerischen Epen, aber auch der Werke Hesiods nachweisen. Gegen den stetig wachsenden Einfluss der griechischen Zuwanderer erhob sich in Ägypten freilich auch heftiger Widerstand, vor allem in der etablierten libyschen Kriegerschicht des Landes. Erst unter Pharao Amasis (568–526) festigten sich der gegenseitige kulturelle und ökonomische Austausch sowie die politischen Beziehungen der Saiten-Dynastie zur griechischen Staatenwelt und zu prominenten hellenischen Heiligtümern wie Delphi: Der Handelsplatz Naukratis (griech. „die Schiffsmächtige“) im Nildelta wurde für die in Ägypten heimisch gewordenen Griechen zu einer rasch aufblühenden hellenischen Polis, mit eigenen Institutionen und garantierter innerer Autonomie, ausgebaut. Erst die Invasion des Achaimenidenherrschers Kambyses (525/524) und die anhaltende persische Fremdherrschaft haben diese letzte große Blütezeit des pharaonischen Ägyptens – einschließlich der damals erreichten und für beide Seiten äußerst fruchtbaren Verbindung mit dem aufsteigenden Hellenentum – abrupt beendet.

Siedlungspolitik im Schwarzmeergebiet

In der von Milet, der größten und wohlhabendsten Polis Ioniens, betriebenen Siedlungspolitik im Schwarzmeergebiet (griech. Pontos) zeigen sich enge Übereinstimmungen mit der frühesten euboiischen Kolonisationsphase im Westen: Milet konnte freilich über längere Zeit seine Position als Metropole im Kreise seiner zahlreichen „Tochterstädte“ (angeblich mehr als achtzig Ansiedlungen) behaupten. Seit dem Ende des 7. Jahrhunderts bildete sich aus diesen Gemeinwesen – vom Marmara-Meer aus über alle pontischen Küsten und die Krim-Halbinsel bis an die Don-Mündung (Tanais) – ein dichtes Netz von Verkehrs- und Handelsstützpunkten. Dementsprechend gewann die Polis Milet an ihrem ausgedehnten „Kolonialreich“ genügend Rückhalt, um sich in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts v. Chr. – anders als die meisten Festland-ionischen Städte – in langwierigen Kämpfen gegen das aufsteigende Lyderreich von Sardes zu behaupten. Erst 546 v. Chr. wurde die stolze Metropole im Verlauf des Siegeszugs Kyros’ II., des Begründers des achaimenidischen Weltreiches, unter persische Herrschaft gezwungen. Die gewaltsame Unterwerfung durch die Perserheere löste im ionischen Raum eine große Auswanderungswelle aus, deren Kolonistenscharen sowohl im griechischen Westen (Korsika) als auch an der thrakischen Küste (Abdera) und im Nordpontos-Gebiet (Phanagoreia) eine neue Heimat suchten.

An der Ostküste der Krim und auf der gegenüberliegenden Tamanhalbinsel (am Kimmerischen Bosporus) entwickelte sich dann im Verlauf des 5. Jahrhunderts eine fruchtbare Symbiose zwischen den dort etablierten milesisch-ionischen Kolonialstädten und den einheimischen Stämmen im Hinterland, aus der das langlebige, griechisch geprägte Bosporanische Reich erwuchs. Von hier aus verbreiteten sich, mit dem Austausch von begehrten Zivilisationsgütern und künstlerisch hochwertigen Handwerksprodukten, hellenische Kultureinflüsse weit in den skythisch-eurasischen Raum hinein.

wbg Weltgeschichte Bd. II

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