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IV. Nomaden in den Vorstellungen von Kulturabfolge

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Als eine Weiterentwicklung dieser Vorstellungen zeigt sich die zunehmende Integration des Nomadenbildes in die griechischen Kulturfolgenmodelle. So beschreibt Thukydides (I 3) in seiner Archäologie einen nomadischen Urzustand der Hellenen, wobei er die Pelasger subsumiert. Athen spielt aber bei ihm eine Sonderrolle, die er mit der Armut der Landschaft begründet. Aus diesem Grund sei Athen auch von Anfang an von staseis verschont geblieben. Die politische Bedeutung wird im Epitaphios noch einmal aufgegriffen, weil die Freiheit eine besondere Errungenschaft der Athener ist und sogar explizit ihre Autochthonie begründet.40

In der Zusammenstellung von Armut, Freiheit und Autochthonie sind die Elemente eines politischen Diskurses in der antiken Literatur zu finden, der seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. in unterschiedlichsten Kontexten begegnet und auch nicht immer speziell an die Geschichte Athens geknüpft ist. Sowohl in der hippokratischen Schrift De aeribus als auch bei Xenophon wird das Argument verwendet, dass es in Asien, d.h. im Herrschaftsbereich der persischen Tyrannis durchaus Völker gebe, die sich ihre Freiheit gegenüber der eigentlich fast übermächtigen Macht der Perser bewahren können, wenn bestimmte Bedingungen gegeben sind.41 Die Schrift De aeribus beschreibt dies in einem klar formulierten Zusammenhang. Die im engeren Sinn als politische Freiheit definierte ἐλευθερία ist gleichbedeutend mit der Freiheit von der Tyrannenherrschaft und diese wiederum ist durch eine von der Umwelt, d.h. der Landschaft und dem Klima geprägten Lebensweise abhängig.42 Die Kargheit der griechischen Landschaft wird aus den stärkeren Klimaschwankungen erklärt und die besondere Tapferkeit der Menschen bedingt wiederum ihre politische Unabhängigkeit.43

Die Elemente, die in diesen Argumentationen verknüpft werden, sind immer dieselben und werden wie Versatzstücke verwendet: Armut und Nicht-Sesshaftigkeit, die landschaftlich-klimatische Besonderheit der Kargheit, die wiederum Wanderungen bedingen. Die Wanderungen sind ihrerseits verbunden mit Besitzlosigkeit, diese bedingt eine besondere Form der Freiheit und Unabhängigkeit.

Der berühmte Mythos des Protagoras im gleichnamigen platonischen Dialog präsentiert diese Argumente in dem vielleicht geschlossensten Kontext.44 Der Urzustand der menschlichen Gemeinschaft ist derjenige der Nicht-Sesshaften, die Menschen wandern umher, haben keine Städte,45 und erst in einer weiteren Phase der Entwicklung wird den Menschen durch die Verleihung von aidos und dike die Sesshaftwerdung, d.h. die Überwindung der verstreuten und ohne dauerhafte Gemeinschaftsbildung auskommenden Existenz möglich, und damit auch der Übergang zu der neuen, von Sesshaftigkeit geprägten Lebensweise.46 Hier ist die Vorstellung zu erkennen, dass die Entwicklung der menschlichen Existenz in mehreren Phasen ablief, die durch extrem unterschiedliche Lebensarten geprägt waren. Mindestens seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. waren diese Evolutionstheorien so geläufig, dass sie in den unterschiedlichsten literarischen Gattungen begegnen konnten wie etwa dem Drama, medizinischen oder eben auch historiographischen Werken wie denjenigen Herodots und Thukydides’.47 Der Mensch als ursprünglich mangelhaft ausgestattetes Wesen existiert demnach in einem anfänglichen Urzustand, der dem der wilden Tiere nicht unähnlich ist (θηριώδης).48 Wie Tiere streifen die Menschen umher, ohne gesellschaftliche Ordnung (ἄταϰτος … βίος), ohne städtische Zivilisation und ohne Ackerbau.49 Dass es den Menschen gelungen ist, sich aus diesem Urzustand weiterzuentwickeln und ihre besonderen zivilisatorischen Leistungen zu erringen, wird nun allerdings mit ganz unterschiedlichen Tendenzen verbunden. Diese positive, zivilisationsapologetische Richtung findet sich wie bereits erwähnt im Mythos des Protagoras, aber auch in De vetere medicina und bei Diodor, die negative, zivilisationskritische Sicht dagegen bei Kritias und Prodikos.50

Lässt man die frühen Kulturentstehungslehren Revue passieren, so fallen strukturelle Ähnlichkeiten mit der Charakterisierung von Nomaden sofort auf. Elemente aus dem Nomadendiskurs, die wie die Migration und die Mobilität als Elemente der Nicht-Sesshaftigkeit einer zivilisatorisch geprägten Sesshaftigkeit mit Stadt, Mauer und Burg in klarer Dichotomie gegenübergestellt werden, begegnen genauso in den Kulturentstehungslehren wie in der Nomadencharakteristik. Eine besonders charakteristische Nomaden-Beschreibung findet sich bei Strabon7#160;VII 3, 7:

Ἀλλὰ ϰαὶ νῦν εἰσιν Ἁμάξοιϰοι ϰαὶ Νομάδες ϰαλούμενοι, ζῶντες ἀπὸ θρεμμάτων ϰαὶ γάλαϰτος ϰαὶ τυροῦ, ϰαὶ μάλιστα ἱππείου, θησαυρισμὸν δ’ οὐϰ εἰδότες οὐδὲ ϰαπηλείαν, πλὴν ἢ φόρτον ἀντὶ φόρτου.

»Auch jetzt gibt es ja noch Menschen, die Hamaxoikoi (‹Wagenbewohner›) und Nomaden genannt werden, welche von ihren Herden, von Milch und Käse, besonders von Pferdekäse, leben, aber weder Vorratswirtschaft noch Kleinhandel kennen, außer den Tausch von Ware gegen Ware.«

Das entscheidende Merkmal ist Mobilität, d.h. eine Lebensform, die ohne feste Wohnsitze, ohne Städte und ohne individuellen Besitz auskommt.51

Auffallend ist auch, dass gerade die Atthidographen mit einer nomadischen Urgeschichte Athens gerechnet haben:

Philochoros FGrH 328 F. 2a (= Stephanos Byzantios, Ethnica Meineke p. 139):

ἄστυ· ἡ ϰοινῶς πόλις. διαφέρει δέ, ὅτι τὸ μὲν ϰτίσμα δηλοῖ ἡ δὲ πόλις ϰαὶ τοὺς πολίτας. »ἐϰλήθη δὲ ἄστυ« ὡς Φιλόχορος ἐν ᾱ Ἀτθίδος (FGrH 328 F. 2a) »διὰ τὸ πρότερον νομάδας ϰαὶ σποράδην ζῶντας τότε συνελθεῖν ϰαὶ στῆναι ἐϰ τῆς πλάνης εἰς τὰς ϰοινὰς οἰϰήσεις, ὅθεν οὐ μετανεστήϰασιν. Ἀθηναῖοι δὲ πρῶτοι τῶν ἄλλων ἄστη ϰαὶ πόλεις ᾤϰησαν«.

»Asty«: im Allgemeinen <sc. identisch mit> »Polis«. Ein Unterschied liegt jedoch darin, dass das eine die Siedlung, die Polis aber auch die Bürger bezeichnet. »Asty wurde sie genannt«, so Philochoros im ersten Buch der Atthis, »deshalb, weil die Menschen, die früher als Nomaden und vereinzelt lebten, sich damals zusammenschlossen und vom Umherziehen zum Verbleib in gemeinsamen Siedlungen übergingen, aus welchen sie nicht mehr auszogen. Die Athener aber haben als erste von allen ἄστη und πόλεις bewohnt.«

Nach Philochoros muss die Abfolge dergestalt ausgesehen haben, dass die Athener zuerst in einem Urzustand als Nomaden lebten, dann ihr Nomadenleben aufgegeben haben, sesshaft wurden und zum Opfer der nomadischen Pelasger wurden, die in Attika einfielen.52

Bei den Vorsokratikern ist die Einteilung in Kultur- oder Zivilisationsstufen nicht selten und die Vorstellung von einem goldenen Urzustand ist bekanntlich bereits seit Hesiod geläufig.53 Aber als erstes bekanntes und ausformuliertes Kulturstufenmodell gilt eine bei Porphyrios, De abstinentia erhaltene Passage aus Dikaiarchos.54 Dieser unterscheidet in seinem Bios Hellados drei Stufen der Entwicklung: Die erste entspricht dem goldenen genos bei Hesiod, in dem die Griechen noch nahe bei den Göttern waren und sie hatten – verglichen mit dem gegenwärtigen Zustand – die beste Lebensweise. Der νομαδιϰὸς βίος ist eine zweite Lebensart, in der ein einfaches Leben in freier Besitzlosigkeit und Gesundheit immer noch erstrebenswerter erscheint als auf der dritten Stufe, die als γεωργιϰὸν εἶδος mit Besitzstreben, Kooperation und Konkurrenz verbunden ist.55 Im Unterschied zu den sophistischen Lehren wie dem Mythos des Protagoras oder der Archäologie des Thukydides steht hier die Abstufung einer immer weiter sich verändernden Lebensgrundlage und damit auch Lebensform im Mittelpunkt.56Allerdings wird im Mythos des Protagoras die Lebensgrundlage nur zum Ausgangspunkt der sozialen und gesellschaftlichen Entwicklung genommen und nicht als entscheidender Motor einer kulturellen Entwicklung angesehen. Daher ist auch bei Platon und Aristoteles kein Modell der Kulturabfolge zu erkennen, wenngleich die einzelnen Elemente, die Dikaiarchos verwendet, durchaus von ihnen stammen können.57 Die nomadische Phase in der menschlichen Entwicklung begegnet bei Platon,58 während Aristoteles keine ‹goldene› oder wie auch immer zu bezeichnende ideale Ursituation kennt. Wenn bei Aristoteles überhaupt eine positive oder Idealverhältnissen entsprechende Bewertung zu erkennen ist, dann könnte sie zwar in der Beschreibung des nomadischen Lebens zu finden sein:

Aristoteles, Politik I, 8, 6 (= 1256a31f.):

οἱ μὲν οὖν ἀργότατοι νομάδες εἰσίν· ἡ γὰρ ἀπὸ τῶν ἡμέρων τροφὴ ζῴων ἄνευ πόνου γίνεται σχολάζουσιν, […]

»Die wildesten Menschen sind die Nomaden, denn weil sie ihre Nahrung ohne Mühe von zahmen Tieren erhalten, haben sie viel Zeit.«

Aber im Gegensatz zu Dikaiarchos beschreibt er eben kein Kulturfolgenmodell, sondern gibt eine systematische Einteilung menschlicher Lebensformen ohne historischen Bezug.59

Im Vergleich dazu zeigt sich bei den Atthidographen ein explizit historisches Kulturfolgenmodell, das progressiv evolutionistisch vom Nomadismus zur Sesshaftigkeit verläuft,60 und das in späterer Zeit offensichtlich sehr verbreitet war (Polyainos, Strategemata VII, 1, 1; Tatianos, Oratio ad Graecos 39, 1; Gregor von Nyssa, In illud: Quatenus uni ex his fecisti PG Vol. 46, p. 477, A2–10; Iulian Apostata, Πρὸς Ἡράϰλειον ϰυνιϰὸν 16; Eusebios, Praeparatio evangelica II, 5, 3–4; X, 11, 18; Johannes Lydos, De magistratibus populi Romani p. 34).

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