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II. Nomaden zwischen Kritik und Idealisierung
ОглавлениеBisher stand in der Forschung der antike Diskurs über die Barbaren und deren Verhältnis zu den ‹zivilisierten› Völkern der Griechen und Römer im Vordergrund9 und dabei wurde in der Regel nicht zwischen Barbarenund Nomadenbezeichnungen unterschieden, so dass Beschreibungen nomadischer Völker als Barbarenschilderungen verstanden wurden.10 Der früher oft schematisch verwendete Gegensatz von Hellenen und Barbaren wird heute zunehmend relativiert. Idealisierung, Kritik und unterschiedlichste Verwendung in Kulturfolgenmodellen erlauben aber auch in diesem Rahmen eine Klassifizierung als Nomadendiskurs.
Ab dem 4. Jahrhundert v. Chr. zeigen die antiken Quellen eine Überlagerung des Nomadendiskurses durch den Barbarendiskurs, die älteren Quellen unterscheiden beides, so werden bspw. die Skythen bei Herodot nie als Barbaren bezeichnet.
Man führte bereits in der Antike einen Disput über die Rolle der Nomaden in der Literatur, die an die Frage anknüpfte, seit wann nomadische Völker bekannt waren, ob und mit welchen Ethnonymen sie bezeichnet wurden oder ob die älteren Beschreibungen eher in den Bereich der Fabeln gehörten. Ausgangspunkt der Diskussion über das Bild von den ‹idealen› Nomaden ist Homer, Ilias 13,1–6, wo es um Thraker und Mysier, Hippomolgen (‹Pferdemelker›) und Galaktophagen (‹Milchesser›, ‹von Milch Genährte›) und Abier geht (entweder als Epitheton [a-bioi] oder als Ethnonym). Damit wären die bei Homer beschriebenen Nomaden entweder als ‹besitzlos› (ἄβιος), etwa wie es bei Antiphon heißt (DK 87 F. 43: Ἄβιος: τὸν ἄβιον Ἀντιφῶν ἐπὶ τοῦ πολὺν τὸν βίον ϰεϰτημένου ἔταξεν, ὡς Ὅμηρος ἄξυλον ὕλην λέγει τὴν πολύξυλον – »Antiphon benutzt das Wort für denjenigen, der reichlichen Besitz hat so wie Homer von dem dichten Wald als axulos spricht«)11, d.h. als Volk ohne die übliche Grundlage des Lebenserwerbs aus dem Ackerbau, und als gerechteste beschrieben, oder es wird ein weiteres Volk der Aufzählung hinzugefügt, von dem allerdings nur der Name bekannt ist. Später findet sich dazu eine ausführliche Diskussion bei Strabon (VII, 3, 9) und die Homerscholien zeigen einen regen Diskurs zu der Erwähnung von Abiern, Gabiern und nomadischen Skythen in Aischylos, Prometheus Vinctus (709–713), in denen immer wieder angenommen wird, dass Aischylos damit real existierende Völker meinte. Dagegen zeigt ein Lemma bei Photios (Lexicon α 37), wortgleich übernommen in den byzantinischen Lexica Segueriana (α 6) zu ἄβιος, dass die bereits bei Hesiod (Ἡσίοδος »εἰ γάρ τοι ϰαὶ χρῆμ’ ἐγϰώμιον ἄλλο γένοιτο«. <῎Αβιος> ἔθνος Σϰυθιϰόν)12 und Antiphon (s.o.) zu erkennende und danach in der griechischen Literatur gut nachweisbare Interpretation als Epitheton der Nomaden eine sichere Tradition in der antiken Literatur hat und die »Abier/Gabier« wohl eher eine Erfindung der gelehrten Kommentatoren waren als ein real existierendes Volk.13 Strabon schreibt in diesem Zusammenhang schon ganz ausdrücklich gegen Poseidonios an, der an Homer eine unzulässige Tendenz zur Idealisierung der Nomaden kritisiert habe. Strabon nimmt Homer gegen den Vorwurf des Poseidonios in Schutz, er habe die Völker im Norden nicht gekannt, sondern nur seine Phantasie walten lassen: Homer habe die nördlichsten Völker nicht bei ihren Ethnonymen genannt, sondern sie vielmehr anhand ihrer Lebensweise deutlich charakterisiert (Strabon I, 1, 6: Homer, Ilias XIII, 5–6; Strabon I, 2, 27; VII, 3, 7).
Genauso hat man in der Antike über die Erwähnung der Kimmerier bei Homer, Odyssee XI, 14 als demos mit polis diskutiert, die oft als Interpolation abgetan wurde. A. Ivantchik14 vertritt die These, dass sich Ilias und Odyssee offensichtlich auf zwei verschiedene Nomadenvölker beziehen: die Ilias auf die westliche Gruppe der Träger der frühskythischen archäologischen Kultur und die Odyssee auf die realen, historischen Kimmerier, von denen aber offenbar so wenig bekannt war, dass sie wie ein griechisches Volk mit demos und polis gedacht wurden. Auch Herodots Charakterisierung der Skythen orientiert sich am Muster der griechischen Polis. Die zentrale Göttin ist die Hestia als Göttin des Herdes der Gemeinschaft im öffentlichen Raum, die Skythen sind astoi, also als Bürger einer Polis gedacht (Herodot IV, 127 und 68, 1). Daran ist bereits zu erkennen, dass die griechische Perspektive die fremden Völker von Anfang an nach den eigenen gesellschaftlichen und politischen Vorstellungen formte.
Wie von R. Bichler15 ausführlich beschrieben, so verbinden sich in der Literatur der Antike kulturhistorische Vorstellungen, die sich in der Beschreibung vom naturverbundenen, sorglosen Leben ferner Völker als einer Idealisierung niederschlagen, mit utopischen Zügen. Gleichwohl ist im Fall der Skythen, aber auch der Thraker, der von Strabon charakterisierte, historische Kern unübersehbar. So haben bereits Herodot und der zeitgleich mit ihm schreibende Autor der kulturtheoretischen Schrift ‹Über die Umwelt› (De aeribus 17–22) aus der Schriftensammlung des Corpus Hippocraticum versucht, die mythischen, geographischen und literarischen Elemente dieser Tradition in ein geographisch-klimatisches Weltmodell zu integrieren, welches die Spezifika einzelner Völker mit empirischer Erfahrung und Wissen unterlegt.
Jedoch in der Überlieferung des 4. Jahrhunderts v. Chr. ist die Idealisierung des griechischen Nomadenbildes ganz deutlich zu greifen, u.a. in den Vorstellungen von dem Skythen Anacharsis, dem ein Platz im Kreis der Sieben Weisen zugewiesen wird.16 Er wird als Nomade einerseits deutlich von den anderen Weisen (Solon, Thales, Bias, Periander etc.) abgegrenzt, andererseits als Kulturbringer beschrieben, dem die Griechen zivilisatorische Errungenschaften wie den Blasebalg, die Töpferscheibe und den doppelten Anker verdanken (vgl. Platon, Politeia 600a). Ephoros (FGrH 70 F. 42), auf den sich Strabon später sehr ausgiebig stützt (bei Strabon v.a. VII, 3, 9), wird als eine der wesentlichen Quellen für diese immer weiter vorangetriebene Idealisierung angesehen. Im Hellenismus und in der kaiserzeitlichen Literatur wird dieses Bild umkodiert und Nomaden werden als Vertreter einer einfachen, naturverbundenen Lebensweise, deren charakteristische Elemente Mobilität, Besitzlosigkeit, Ernährung von Milch und Käse etc. sind, beschrieben. Aber auch eine doppelte Umkodierung findet sich: Am Beispiel wiederum des Anacharsis zeigt Lukian, wie zentrale Elemente der griechischen Kultur wie das Gymnasium aus dem Blickwinkel des Fremden lächerlich werden können (Lukian, Anacharsis 18 und 39). Gleichzeitig wird aber auch die gegenläufige Konzeption von Zentrum und Peripherie verwendet (Strabon XVII, 2, 1), die die Nomaden als mängelbehaftete Wesen ansieht, die am Rande der Welt leben. Die ironische Umkehrung der Verhältnisse bei Lukian, der den Nomaden zum spöttischen Schiedsrichter über griechische Kulturtraditionen macht, basiert nicht nur auf dieser Differenz zwischen Zentrum und Peripherie, sondern macht sich auch in dem Bild des unzivilisierten Nomaden die kritische Sicht zu eigen.