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Einführung I. Nomadismusforschung
ОглавлениеEntgegen der Prophezeiung des bekannten Nomadismus-Forschers F. Scholz »Der Nomadismus ist tot«1 erlebt das Phänomen selbst im Zuge der Globalisierung eine Renaissance. Andererseits nimmt auch die Faszination, die zu einer tiefergehenden Beschäftigung mit dem Phänomen führt, einen deutlichen Aufschwung.2 Eine besondere Rolle kommt hier den Forschungen zu, die seit dem Jahr 2000 in dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Sonderforschungsbereich »Differenz und Integration. Wechselwirkungen zwischen Nomaden und Sesshaften«3 durchgeführt wurden.
Der Sonderforschungsbereich befasste sich mit den Beziehungen zwischen Nomaden und Sesshaften in Geschichte und Gegenwart. Untersuchungsraum ist der Altweltliche Trockengürtel, von Marokko bis China, in dem mobile und sedentäre Lebensformen seit alters in enger Verbindung stehen. Handel und Austausch, Abgrenzung und Konflikt, Versuche der Beherrschung und Prozesse der Durchdringung haben das Verhältnis von festen, oft urbanen Siedlungsformen und nomadischen Bevölkerungen bestimmt. Diese wechselvolle Koexistenz hat die Zivilisationen in weiten Teilen der Welt und über lange Zeiträume geprägt und ist noch heute, unter anderen Bedingungen, wirksam.
Das Forscherteam, Geographen und Historiker, Ethnologen, Altertums- und Orientwissenschaftler sowie Archäologen der Universitäten Halle-Wittenberg und Leipzig, suchte Interaktionstypen in den wichtigsten Lebensbereichen zu erfassen. Dabei wurden Formen und Entwicklungen der wirtschaftlichen Organisation, politischer Institutionen, religiöser und ethischer Vorstellungen sowie sozialer und ästhetischer Werthaltungen berücksichtigt.
Die nomadische Nutzung natürlicher Ressourcen durch extensive Weidewirtschaft sowie anderer durch Mobilität erschlossener Erwerbsquellen ist natürlich kein Neuland für die Forschung. Doch wurden ihre Verflechtungen mit Dorf, Stadt und Staat bislang zu wenig untersucht. Die Ergebnisse können auch für die Zukunft wichtig werden, etwa weil die zunehmende Verknappung von Wasser mobile Weidewirtschaft begünstigen wird, oder weil sich in den Ballungsräumen neue Formen nomadisierender Lebensweisen herauszubilden scheinen.
In den Altertumswissenschaften fehlt allerdings eine umfassende Darstellung, die auf diesen neueren Konzepten beruht. In der Regel ist die altertumswissenschaftliche Forschung, die das Thema der Nomaden (z.B. Skythen) in der antiken Literatur aufgreift, bisher von der Annahme geprägt, dass die antike Literatur vorzugsweise Stereotypen und Topoi verwende, und nicht einmal zwischen Barbaren und Nomaden unterscheide. Aus unseren Forschungen zur gegenseitigen Bezugnahme zwischen Nomaden und Sesshaften hat sich demgegenüber ergeben, dass über die Analyse der Differenz zwischen ‹klischeeartigen› und ‹realen› Elementen der Nomadendarstellungen in der antiken Literatur4 die Darstellungsperspektive der antiken Autoren über die reine Zuordnung von Stereotypen hinaus nutzbar zu machen ist und in den jeweiligen Kontext eingebunden werden kann. Die Nomadenbilder, welche die Texte vermitteln, sind keineswegs so gleichförmig, wie der Topos-Begriff es suggerieren will, sondern komplex. Schreibt ein Autor über Nomaden, so ist dies zwar immer mit Wertungen verbunden, doch können diese erheblich divergieren.
Nomadismus beschreibt sowohl ein historisches Phänomen als auch ein Phänomen der Wahrnehmung und Konstruktion. Beschreibungen von Nomaden begegnen in der antiken Literatur seit Homer und sind einerseits beeinflusst von Kontakten, Austausch und Kriegen mit nomadisch lebenden Völkern in den Regionen des Donau-Schwarzmeerraums, Nordafrikas und des syrisch-arabischen Raums. Andererseits vermischen sich Selbstund Fremdbildkonstruktionen mit dem Barbarenbild und je nach regionalem und historischem Kontext repräsentieren sie sowohl idealisierte als auch ablehnend-kritische Vorstellungen von Nomaden.
Im altweltlichen Trockengürtel, in Nordafrika, in der Sahel-Zone, im Nahen und Mittleren Osten, in Mittelasien, Innerasien und Teilen Südasiens leben seit langer Zeit nomadische Bevölkerungsgruppen in Berührung und Verbindung mit urbanen und bäuerlichen Organisationsformen. Die Koexistenz von zum Teil hoch komplexen urbanen Kulturformen mit nomadisierenden Bevölkerungen ist eine Erscheinung, die in großer räumlicher Breite und in erheblicher zeitlicher Tiefe Wirkung entfaltet hat.5
Als Idealtypus, nicht unbedingt in seinen historischen Formen, gilt Nomadismus vielfach als ein natürlicher Gegensatz zu sesshaften Lebensweisen. Einerseits wird damit eine Wertescheidung verbunden, deren positiver Pol die ‹entwickelten› Gesellschaftsformen als Ergebnis evolutionärer Prozesse repräsentieren, während andererseits Nomaden als Antipoden der sesshaften Zivilisationsträger und potentielle Bedrohung der Zivilisation erscheinen. Diese Sichtweise verweist als ein historisches Modell auf die zerstörerische Wirkung nomadischer Eroberungen, obgleich die Richtigkeit dieser Interpretation von der modernen Forschung in Zweifel gezogen wurde.
Heute wird mobile Herdenwirtschaft als eine ‹Kulturweise› gesehen, die prinzipiell anders ist als die der städtisch/bäuerlich Sesshaften,6 als ‹stehengebliebene Zivilisation›. Im Unterschied zu diesen Positionen betont bspw. A. Khazanov7 die Bedeutung der Berührungen zwischen nomadischer und nicht-nomadischer Lebensweise. Die historischen und systematischen Untersuchungen zu den Wechselwirkungen zwischen der nomadischen und sesshaften Lebensart aus dem Sonderforschungsbereich »Differenz und Integration« haben in den durchgeführten Einzelprojekten mittlerweile eine solide Grundlage geschaffen, um für die Antike einen Neuansatz in der Sichtweise des Nomadismus einzuleiten.
Es zeigt sich, dass das Bild der Nomaden in der Antike wesentlich von der literarischen Tradition geprägt ist. Dieses Bild ist nicht stereotyp und topisch,8 denn in die Wahrnehmung des Nomadentums durch Sesshafte sind komplexe historische Verhältnisse eingegangen. Diese spiegeln sich in ambivalenten Darstellungen und sind auch im Zusammenhang von Identitätsbildungen zu berücksichtigen. Seit Homer ist in der antiken Literatur eine Tradition zu erkennen, die – auch im Zusammenhang mit dem Nomadenbild – Konzeptbildungen vom Eigenen und Fremden entwickelt. So sind die Nomaden in der Antike einmal als unzivilisierte, sich primitiv ernährende Wilde angesehen worden, ein andermal als in ihrer Lebensweise optimal an ihre Umwelt angepasst, weswegen man sie einmal als rohe Räuber, dann aber auch als geradezu ideal für die Demokratie geeignet betrachtete. So konnte dann etwa auch der Nomade Anacharsis sogar in den Kreis der Sieben Weisen erhoben werden.
Beweggründe, Verhaltensmuster und Bewältigungsstrategien der sesshaften Bevölkerung sind nun bekanntlich aufgrund unserer Überlieferungslage generell gut erklärbar. Die Perspektive der Nomaden dagegen – da sie in der Regel keine eigene Schriftkultur entwickelt haben – ist schwerer zu ermitteln und nur über den Reflex und die interpretatio graeca bzw. romana zu erfassen. Anhand der vorliegenden Quellensammlung soll dies in der Einführung an einigen ausgewählten Aspekten exemplarisch belegt werden, insbesondere unter Berücksichtigung der verschiedenen Stufen in der Ausgestaltung und Übertragung des Nomadenbildes.