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Abstieg
ОглавлениеA. oder Aufstieg bezeichnet den Bewegungsverlauf (↗ Bewegung) eines Körpers innerhalb eines vertikalen ↗ Raums, in ersterem Fall mit abnehmender, in zweiterem mit zunehmender ↗ Höhe. Architektonisch wird ein A. meist durch schiefe ↗ Ebenen, Stufen, Treppen, Leitern oder sonstige Hilfselemente ermöglicht. Auf solche räumliche Vorstellungen beziehen sich auch philosophische ↗ Metaphern des A.es. Die exemplarische Darstellung von philosophischen A.en findet sich im siebten Buch von Platons (427–347 v. Chr.) Schrift Politeia als sog. Höhlengleichnis: Es beschreibt in einer komplexen räumlichen Anordnung Personen (↗ Proxemik), die in einer ↗ Höhle angekettet, im indirekten Licht (↗ Optik) eines Feuers auf der Wand vor sich nur die Schatten von Gegenständen erkennen, die hinter ihnen, über eine ↗ Mauer ragend, vorübergetragen werden. Der Höhlenausgang (↗ Tür), der sich über die ganze Länge der Höhle zieht, ist nur durch einen beschwerlichen Aufstieg zum ungleich stärkeren Tageslicht (↗ Nacht) zu erreichen. Erst außerhalb der Höhle ist diesen Personen ein schrittweises Erkennen der tatsächlichen ↗ Welt möglich, das über einen weiteren, epistemischen Aufstieg zu der ideellen Erkenntnis führt, dass die ↗ Sonne „alles ordnet im sichtbaren Raume und auch von dem, was sie dort sahen, gewissermaßen die Ursache ist“ (516b–c). Philosophisches ↗ Wissen legitimiert sich somit durch einen Aufstieg zur höchsten Idee. Eine explizite Stufenlehre in diesem Sinne formuliert der Neuplatoniker Plotin (204–270). Eine völlig entgegengesetzte Bewertung von philosophischen A.en vertritt hingegen Friedrich Nietzsche (1844–1900), wenn er in dem Stück „Wie die ‚wahre‘ Welt endlich zur Fabel wurde. Geschichte eines Irrthums“ aus seiner letzten selbst veröffentlichten Schrift Götzen-Dämmerung von 1889 mit seinem antiplatonischen Sonnengleichnis Etappen der Philosophiegeschichte als eine zunehmende Entfernung von der Kraft der platonischen Sonne interpretiert. Mit dem Verlust der metaphysischen Ideenwelt Platons ist bei ihm auch die Welt der Erscheinungen abgeschafft, was zu einem Denken (↗ Logos) reiner Präsenz (↗ Anwesenheit) führt, wie es in der Metapher von Zarathustras ‚hohem Mittag‘ ausgedrückt ist. Diese zeitliche (↗ Zeit) Metapher kann in Rückgriff auf die topographischen (↗ Topographie) Aufstiegsprozesse der Hauptfigur in Nietzsches Also sprach Zarathustra, insbesondere im Eröffnungsabschnitt „Der Wanderer“ aus dem dritten Teil von 1884, auch räumlich verstanden werden, als ein Zusammenfallen von ↗ Gipfel und Abgrund (↗ Grund). Wie eine Zurückweisung der philosophischen A.sthematik wirkt demgegenüber Ludwig Wittgensteins (1889–1951) Bemerkung aus dem Tractatus logicophilosophicus von 1921, man müsse die Leiter – seine Sätze – wegwerfen, nachdem man „auf ihnen […] über sie hinausgestiegen ist“ (6.54). Im Zusammenhang ästhetischer Überlegungen verwendet Wittgenstein (1977, 18) später jedoch mit der an Spinozas (1632–1677) Ethik von 1677 angelehnten Formulierung „sub specie aeterni“ (5,29) wieder ein topologisches (↗ Topologie) Konzept, um auf eine überzeitliche Erkenntnisposition zu referieren, die gleichsam im Flug (↗ Überflug) von oben auf die Welt blickt, ohne auf sie Einfluss zu nehmen.
Literatur: Halfwassen 2006; Liessmann 2007.
Halfwassen, Jens (2006): Der Aufstieg zum Einen, München.
Liessmann, Konrad P. (2007): Prügel für Wittgenstein?, in: Wittgenstein-Studien 15, Frankfurt a. M., 37–48.
Wittgenstein, Ludwig (1977): Vermischte Bemerkungen, Frankfurt a. M.
Frank Müller