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Vorwort
ОглавлениеDieses Lexikon zeigt, dass Raum als Thema und Untersuchungsgegenstand von Philosophie sowie von Kultur- und Naturwissenschaften nicht nur in Vergangenheit und Gegenwart anzutreffen ist, sondern auch eine konstitutive Rolle für die Etablierung vieler Ansätze und Formen der Anwendung – gerade über Fachgrenzen hinweg – spielt. Der Entschluss zur Darstellung in einem Wörterbuch erlaubt dabei eine disziplinäre und methodische Pluralisierung von Perspektiven, welche nicht einer einzelnen Wissenschaft oder einem einzelnen Ansatz den definitorischen und historischen Vorrang gibt. Vor allem aber werden Wörter, die besondere Formen der Räumlichkeit zum Ausdruck bringen, damit nicht als uneigentliche Metapher für etwas anderes genommen, sondern das Bewusstsein wird dafür geschärft, dass nicht Raum gleichbedeutend ist mit Materie oder Natur, denen dann Geist bzw. Kultur als vermeintlich Unräumliches gegenübersteht.
Der Raumbegriff im Singular wurde bislang meist als ein ursprünglich naturwissenschaftliches Konzept gedacht, das zwar von ontologischen, kosmologischen und theologischen Annahmen geprägt ist, aber im Kern letztlich eine rationale Umarbeitung bis zur Gegenwart hin erfährt. Diese Annahme liegt etwa dem Eintrag „Raum“ im achten Band des für die philosophische Begriffsgeschichte einschlägigen Historischen Wörterbuchs der Philosophie von 1992 zugrunde: In sechs Unterpunkte geteilt, folgt auf eine historische Untergliederung in Antike, Mittelalter, Frühe Neuzeit und den folgenden Jahrhunderten bis zur Gegenwart als letzter Beitrag eine disziplinäre Unterscheidung zwischen Mathematik und Physik einerseits und Kunsttheorie andererseits. Dass die Pluralität des Themas Raum also kaum auf eine singuläre Konzeption reduziert werden kann, zeigt nicht allein die Auslagerung der Kunsttheorie in diesen internen Anhang, sondern wird auch am nachfolgenden Eintrag deutlich, der „Raum, Raumwahrnehmung, psychologischer Raum“ heißt. Hier wird derjenige Teil der Ästhetik abgehandelt, welcher nicht (philosophische) Kunsttheorie und daher der Psychologie zuzurechnen ist; womit gerade phänomenologische Positionen, die zentral für die Frage der Raumwahrnehmung sind, ausgeklammert werden und bei den klassischen philosophischen Positionen zu finden sind. Das Historische Wörterbuch der Philosophie trennt also Ästhetik, Kunst- und Wahrnehmungstheorie voneinander, anstatt bei den Phänomenen oder Fragen anzusetzen, welche ein gemeinsames Feld der Forschung etablieren. Diesem Desiderat tritt dann etwa der Eintrag „Raum“ von 2005 im fünften Band der Enzyklopädie Ästhetische Grundbegriffe entgegen, auch wenn diese sich ebenfalls als historisches Wörterbuch versteht.
Im Historischen Wörterbuch der Philosophie finden sich im Anschluss an den Eintrag zur Raumwahrnehmung gar noch zwei weitere Einträge zum Raum: „Raum, logischer“ und „Raum, politischer“. Ersterer verfolgt die spezielle Bedeutung, die der von Ludwig Wittgenstein geprägte Terminus hat, Letzterer behandelt anthropogeographische und geopolitische Konzeptionen. Die dabei veranschlagte Entwicklungslinie findet sich nochmals ausführlicher im Wörterbuch der philosophischen Metaphern von 2007 dargelegt: Ist im historischen Wörterbuch die geographische Bedeutung des Ausdrucks ‚Raum‘ analog der Fragen nach Raumwahrnehmung aus der Philosophiegeschichte ausgelagert, so wird ‚Raum‘ hier nun dezidiert als eine Metapher behandelt, die der Verdinglichung des Sozialen zuarbeitet, wenn sie in humanwissenschaftlichen Kontexten in einem nichtmetaphorischen Sinne Verwendung findet.
Insgesamt zeigt sich damit, dass Raum (nicht nur) für die philosophische Tradition ein schwer fassbarer Begriff ist. Dies liegt letztlich daran, dass Raum eben nicht in einem Begriff aufgeht; vor allem aber liegt es daran, dass Raum nicht in einem Begriff aufgeht. Auf Ersteres reagiert das Historische Wörterbuch der Philosophie in Ansätzen, wenn an anderer Stelle die Einträge „Lebensraum“, „Spielraum“ und „Wachraum/Tagraum“ zu finden sind, diese aber wiederum nur die Aspekte Verdinglichung, Logik bzw. Psychologie wiederholen. Auf Letzteres kann das Wörterbuch nicht reagieren, da das Problem in der Tradition der Begriffsgeschichte und des Linguistic Turn steht, womit Raum ausgehend von Sprache in den Blick genommen, und nicht als Alternative zum sprachzentrierten Ansatz denkbar wird. Genau das ist heute durch die bestehenden Diskurse zum Raum möglich und eine wesentliche Motivation des vorliegenden Lexikons. Denn Räumlichkeit ist nicht bloß ein Aspekt, sondern selbst eine Gesamtsicht. Hierfür ist es also unabdingbar, dass Raumforschung sich nicht nur auf mathematisch-physikalische, sondern auch auf architektonische, geographische, historische, kulturwissenschaftliche, künstlerische, literarische, psychologische, soziologische etc. Erkenntnisse stützt, ohne dabei eine Perspektive von vornherein zu priorisieren.
Zuletzt zeigt gerade eine geschichtliche Betrachtung, dass Räumlichkeit von sich wandelnden Vorstellungen begleitet wird, die nur teilweise miteinander kompatibel sind und sich so auch nicht in eine Geschichte fügen lassen, sowie vor allem: dass es nicht die historischen Kontexte und Bedingungen sind, die sich aus dem Begriff ergeben, sondern dass dieser erst durch sie verstanden werden kann. Anders als in der Form von Sammlungen klassischer Texte (wie etwa dem Band Raumtheorie), Handbüchern mit dezidierter Fachperspektive (wie etwa dem Handbuch Sozialraum) oder Personenportraits (wie etwa Key Thinkers on Space and Place), erfolgt die lexikalische Darstellung im vorliegenden Werk im Ausgang von Konzepten, Phänomenen, Begrifflichkeiten und auch Schlagworten einer – zunächst durchaus fachlich lokalisierten – Debatte über die interdisziplinäre Untersuchung, den Aufriss des Problemfeldes, die Nennung zentraler Positionen und Untersuchungsgegenstände sowie mit einem Überblick über Rezeptionsverläufe oder Gegenpositionen, mit Verweisen auf zugrunde liegende und weiterführende Literatur. Die Namensgebung der Einträge orientiert sich an einem zentralen Stichwort, einem dezidierten Fachterminus oder auch einer Sachbezeichnung. Wenn möglich, wurden deutschsprachige Begriffe verwendet oder bevorzugt, insbesondere in Fällen, bei denen der Raumbezug in der Wortwahl deutlich wird.
Der Plan zu dem Projekt wurde 2007 gefasst und mit dem damaligen Lektor des Fachgebietes Theologie und Philosophie bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, Bernd Villhauer, entwickelt. Ihm gilt ebenso Dank wie seiner Nachfolgerin Stephanie von Liebenstein, mit der dann drei Jahre später, ermöglicht durch eine Förderung des Wilhelm-Weischedel-Fonds, die Arbeit aufgenommen und die Ausrichtung der Einträge festgelegt werden konnte. Abgeschlossen wurde die Publikation schließlich Anfang 2012 mit der Programmmanagerin Carolin Köhne und den Lektoren Andrea Graziano di Benedetto Cipolla sowie Benjamin Landgrebe. Vor allem möchte ich Franziska Kümmerling danken, die nicht nur die ungeheure Logistik eines solchen Publikationsvorhabens bewältigt, sondern auch den Kontakt mit den Autorinnen und Autoren koordiniert und die Texte redigiert hat.
Gedankt sei auch allen Verfassern der 700 Lemmata für die Bereitschaft, dem Prinzip eines Lexikons – insbesondere der knappe Umfang der Darstellungen – und der Fokussierung auf den Aspekt des Raumes gefolgt zu sein und ihre Expertise eingebracht zu haben. Viele der Kontakte zu den Autoren ergaben sich aus Kooperationen, aus ihrer persönlichen Einschlägigkeit für das Thema oder aus den zahlreichen Veranstaltungen zur Frage einer Wende zum Raum in den vergangenen Jahren, bei denen wir diskutieren und voneinander lernen konnten. Möglichkeiten zum Austausch waren insbesondere im Rahmen zweier Lehr- und Forschungsaufenthalte gegeben: zum einen der Gastprofessur „Kulturtheorie und Raumwissenschaft“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin im Sommersemester 2009, auf Einladung von Hartmut Böhme, und zum anderen des Visiting Fellowship zu „Räume des Wissens“ am Historisch-Kulturwissenschaftlichen Forschungszentrum der Universität Trier im Sommersemester 2010, auf Einladung von Martin Przybilski. Danken möchte ich auch meiner Familie und insbesondere meiner Frau Kristina, der ich nach Abschluss des Lexikons das Versprechen gab, dass dieses Projekt einmalig bleiben wird – bei so viel Raum kann durchaus auch mal die Zeit in Vergessenheit geraten.
Stephan Günzel, Berlin zu Ostern 2012