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Abweichung

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Der Begriff der A. (gr. clinamen), erstmals in Epikurs (ca. 341–ca. 271 v. Chr.) Brief an Herodot (43) etabliert, beschreibt im kosmologischen Denken der Atomisten (↗ Leere) das minimale Ausscheren der Atome (↗ Teilbarkeit) aus ihrem ansonsten lotrechten ↗ Fall und ist in der Folge nicht nur Erklärungsmodell für Körperbildungen und ↗ Bewegung, sondern auch als ↗ Metapher für die Integration des Widerspruches in kohärente Sinnträger (↗ Sinn) nutzbar. Bei Lukrez (ca. 97–ca. 55 v. Chr.) beschreibt die A. in De rerum natura (2,216–224) eine Krümmung, welche im Fallregen der Atome ihre Annäherung (↗ Fernwirkung) gewährleistet. Gilles Deleuze (1925–1995) und Félix Guattari (1930–1992) präzisieren dies insofern, als sie die A. nicht als einen Charakterwechsel in der Bewegungsrichtung (↗ Richtung) verstehen, sondern vielmehr als originäre ↗ Bedingtheit der Bewegung selbst, als Synthese der Bewegung und ihrer Richtung sowie als Annäherung an einen Grenzwert (↗ Grenze): „Das clinamen ist der kleinste ↗ Winkel, durch den das Atom von einer Geraden abweicht“ (Deleuze/Guattari 1992, 495). Im Zuge einer Theoretisierung dekonstruktivistischer Lektüren versteht Jacques Derrida (1930–2004) Stil auch als Mittel zu einer inhärenten A. des ↗ Textes von seiner vermeintlichen Offensichtlichkeit des Sinnes: In Analogie zum angespitzten Schreibwerkzeug (↗ Schrift) benutzt Derrida (2007, 184f.) dabei das Bild eines Spornes, welcher in den Strom der ↗ Produktion von Präsenz (↗ Anwesenheit) und ↗ Wahrheit des Textes hineinragt und diesen ablenkt. In seiner Negation totalitärer Identitätsmodelle nennt Jean-Luc Nancy (1988) zudem die A. als maßgebliches Charakteristikum der ↗ Singularität, eines Subjektmodells, das gerade durch die A. seine Entwerkung (frz. desœuvrement) erfährt, d.h. seine Nicht-Vollendung, in der es einer Abschließung (↗ Ausschluss) nach ↗ außen widersteht.

Literatur: Althusser 1999; Deleuze 1993; Serres 1977, 42–64.

Althusser, Louis (1999): Le courant souterrain du matérialisme, in: ders.: Écrits philosophiques et politiques, Bd. 1, Paris, 583–594 [1982].

Deleuze, Gilles (1993): Lukrez und das Trugbild, in: ders.: Logik des Sinns, Frankfurt a. M., 324–340 [frz. 1961].

Ders./Guattari, Félix (1992): Tausend Plateaus, Berlin [frz. 1980].

Derrida, Jacques (2007): Sporen, in: Nietzsche aus Frankreich, hg. v. W. Hamacher, Berlin/Wien, 183–224 [frz. 1973].

Nancy, Jean-Luc (1988): Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart [frz. 1983].

Serres, Michel (1977): La naissance de la physique dans le texte de Lucrèce, Paris.

Christian Reidenbach

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