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Achse
ОглавлениеIn der ↗ Geometrie wird unter A. (gr. axon, lat. axis) die Mittellinie einer Figur (↗ Figuralität) oder eines Körpers verstanden, um die dessen Teile symmetrisch angeordnet sind, in der Mechanik die gedachte ↗ Linie, um die ein rotierender Körper sich bewegt. Ist die ↗ Masse des Körpers gleichmäßig um die A. verteilt, wird von einer freien A. gesprochen. Eine materielle A. ist ein zylindrischer oder konischer Stab, mit dem ein Drehkörper (↗ Wirbel), etwa ein Rad (↗ Kreis), fest oder mittels einer Nabe verbunden ist. Städtebaulich wird unter einer Sichta. eine freie Blicklinie (↗ Blick) entlang bedeutender Baulichkeiten verstanden, so die ‚historische A. (frz. axe historique)‘ in Paris oder die Gerade vom Lincoln Memorial (↗ Erinnerungsort) zum Capitol in der National Mall in Washington, D. C. Der metaphorische Gebrauch baut auf der Idee der Verbindungslinie auf, um die herum Elemente angeordnet sind (↗ Nabel): so die Rede von den ‚A.nmächten (engl. axis powers)‘ im Zweiten Weltkrieg oder der von George W. Bush geprägte Begriff der ‚A. des Bösen (engl. axis of evil)‘. In der ↗ Semiotik wird von den A.n des ↗ Kodes gesprochen. Werden historische ↗ Ereignisse in der räumlichen ↗ Metapher der Anordnung entlang einer Linie vorgestellt, wird diese eine ‚Zeita.‘ genannt. In der Geschichts- und Kulturtheorie einflussreich ist die Verbindung der räumlichen Metaphorik von ↗ Zeitraum und Kulturraum (↗ Areal) mit der Idee einer ‚geistigen A.‘ in dem – von Karl Jaspers (1883–1969) in Aufnahme des von Alfred Weber (1868–1958) in Kulturgeschichte als Kultursoziologie von 1935 vorgebrachten Konzeptes eines ‚synchronistischen Weltzeitalters‘ geprägten – Begriff der ‚A.nzeit‘. Dieser meint einen kulturellen, geistigen und religiösen Durchbruch, der sich – großteils unabhängig, aber parallel – von ca. 800 bis 200 v. Chr. in verschiedenen Kulturräumen ereignet habe: in China durch Konfuzianismus und Daoismus, in Indien mit den Upanishaden und in Griechenland mit der Philosophie sowie in Palästina mit den Propheten und im Iran durch den Zoroastrismus. Dieser Durchbruch bedeutet nach Jaspers (1949, 16) ein Anheben von ‚↗ Geschichte‘ im eigentlichen Sinne, als Herkunftserinnerung und Heraustreten (↗ Sprung) aus „unbefragtem Innesein (↗ In-sein) des Lebens“. Die Idee synchroner Entstehung philosophischer Reflexivität in verschiedenen ↗ Kulturkreisen stellt eine Alternative zum geographisch (↗ Geographie) in einer ↗ Bewegung von Ost (↗ Orient) nach West (↗ Okzident) verorteten Stufenmodell (↗ Klima) der ↗ Entwicklung des ↗ Geistes dar, wie sie Georg W. F. Hegel (1770–1831) behauptet (Holenstein 2004, 48ff.). Damit entstünde Bewusstsein (↗ Intentionalität) im Sinne reflexiver Rationalität und Individualität in Form großer Einzelner, wie den Asketen, Wanderdenkern (↗ Wandern) oder den Philosophen. Damit erfolge eine Öffnung zur Transzendenz (↗ Ekstase) und erstmals bildeten sich Weltreligionen, deren Anspruch auf Relevanz durch Verkündigung und Kodifizierung von ‚↗ Wahrheit‘ das jeweilige kulturelle Umfeld (↗ Umwelt) übersteige. Dies dient Jaspers als Trennlinie zwischen ‚vorachsenzeitlichen‘ und ‚achsenzeitlichen‘ ↗ Kulturen. Kritik an diesen Fassungen des Begriffes hat insbesondere der Ägyptologe Jan Assmann (1990, 28, u. 1992, 290f.) geübt: Jaspers habe die Fremdheit (↗ Fremde) vorachsenzeitlicher Kulturen überschätzt und die lange Vorgeschichte der A.nzeit ausgeblendet, in der es immer wieder zu solchen Durchbrüchen gekommen sei, die keine dauerhafte Tradition begründet hätten. Dies führt er u.a. am Beispiel des ägyptischen Konzeptes von Wahrheit, Gerechtigkeit oder ↗ Ordnung als sog. Ma’at und an der (gescheiterten) monotheistischen Reform des Pharao Echnathon im 14. Jh. v. Chr. aus. Auf der Unterscheidung von oraler (↗ globales Dorf) und textueller (↗ Text) kultureller Kohärenz aufbauend, sucht Assmann (1992a, 269) zu zeigen, dass ein achsenzeitlicher Durchbruch nicht so sehr von einem „neuen Typ ↗ Mensch“ und von „großen Visionen“ an sich, noch auch nur durch die Ausbildung von ↗ Schrift bedingt sei, sondern von den ↗ Formen der Institutionalisierung dieser Visionen, von einer neuen „schriftliche[n] Form der Organisation kultureller ↗ Erinnerung“ und damit „eine[r] nicht zeitgebundene[n] Form kultureller Identität“, die zu Kanonbildung und der Schaffung von Auslegungsinstanzen führe. Ferner besäßen achsenzeitliche Durchbrüche keine Unwiderrufbarkeit. Diese Einwände gehen, wie auch die von Aleida Assmann (1989 u. 1992), gegen eine vereinheitlichende Tendenz in der Darstellung verschiedener Kulturen, die letztlich wiederum die historisch kontingenten Ausprägungen eines Kulturraums zur überregional und -zeitlich gültigen anthropologischen Norm erhebt.
Literatur: Breuer 1994; Dittmer 1999; Eisenstadt 1987 u. 1992; Graubard 1975; Holenstein 1999; Teoharova 2005.
Assmann, Aleida (1989): Jaspers’ Achsenzeit, in: Karl Jaspers, hg. v. D. Harth, Stuttgart, 187–205.
Dies. (1992): Jaspers’ Begriff der Achsenzeit neu betrachtet, in: Kulturen der Achsenzeit II, hg. v. S. N. Eisenstadt, Bd. 3, Frankfurt a. M., 330–340.
Assmann, Jan (1990): Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten, München.
Ders. (1992a): Das kulturelle Gedächtnis, München.
Ders. (1992b): Große Texte ohne eine große Tradition, in: Kulturen der Achsenzeit II, hg. v. S. N. Eisenstadt, Bd. 3, Frankfurt a. M., 245–280.
Breuer, Stefan (1994): Kulturen der Achsenzeit, in: Saeculum 45, 1–33.
Dittmer, Jörg (1999): Jaspers’ ‚Achsenzeit‘ und das interkulturelle Gespräch, in: Globaler Kampf der Kulturen?, hg. v. D. Becker, Stuttgart, 191–214.
Eisenstadt, Shemuel N. [Hg.] (1987): Kulturen der Achsenzeit I, Frankfurt a. M.
Ders. [Hg.] (1992): Kulturen der Achsenzeit II, Frankfurt a. M.
Graubard, Stephen R. [Hg.] (1975): Perspectives on the First Millenium BC, Cambridge.
Holenstein, Elmar (1999): Die Kulturgeschichte der Menschheit, in: Karl Jaspers, hg. v. R. Wiehl u. D. Kaegi, Heidelberg, 163–184.
Ders. (2004): Ort und Wege des Denkens, Zürich.
Jaspers, Karl (1949): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, Zürich.
Teoharova, Genoveva (2005): Karl Jaspers’ Philosophie auf dem Weg zu einer Weltphilosophie, Würzburg.
Hans-Gerald Hödl