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a) Ethik und Mehrsprachigkeit

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Die Welt als sinnhaltiger Ort ist immer zeichenhaft und dabei insbesondere sprachlich vermittelt. Die Andersartigkeit der Anderen in der Welt auf dem Weg über Zeichenprozesse zu verstehen und zu berücksichtigen, ist daher die Herausforderung jeder Ethik. Das Interesse für eine Hermeneutik der Differenz und der Fremdheit, die in der sprachlichen Pluralität literarischer Texte artikuliert wird, steht seit dem cultural turn im Mittelpunkt der Literatur- und Übersetzungswissenschaften (RadaelliRadaelli, Giulia, Literarische Mehrsprachigkeit, 19). Eine kommunikative Ethik des Gesprächs, des Sich-Verstehen-Wollens als einer Übersetzung, macht beispielsweise Zafer ŞenocakŞenocak, Zafer geltend: »Jedes Gespräch, das mehr sein möchte als ein Zusammentreffen von Monologen, ist Übersetzung« (ŞenocakŞenocak, Zafer, Deutschsein, 17). Um den Anderen zu verstehen, muss man sich auf dessen Wahrheitssinn einlassen, und dieses Verstehen ist immer sprachbedingt, wie Hans-Georg GadamerGadamer, Hans-Georg in Wahrheit und Methode, seiner sprachphilosophischen Hermeneutik, hervorhebt. Sprache fungiert dementsprechend immer als »Grenzhorizont einer hermeneutischen Seinserfahrung« (StolzeStolze, Radegundis, Hermeneutik und Translation, 71), auch derjenigen des je anderen und derjenigen anderer Sprachlichkeit.

Dennoch mag die Ausformulierung einer spezifischen Ethik der Mehrsprachigkeit auf den ersten Blick problematisch erscheinen, wie Walter LeschLesch, Walter hervorhebt, »[d]enn die Vielfalt der ›natürlichen‹ Sprachen stellt ja nicht automatisch ein normatives Problem dar« (Lesch, Übersetzungen, 16). Mehrsprachigkeit kann man nämlich auch »als ein Faktum zur Kenntnis nehmen, ohne es mit irgendwelchen Werturteilen und Dimensionen des guten Lebens oder der Gerechtigkeit zu verknüpfen« (ebd.,Lesch, Walter 20). Nichtsdestotrotz ist die Funktion mehrsprachiger Literatur nicht primär pragmatischer Natur, sondern vielmehr ästhetisch und ethisch bedingt. Ihr Ziel ist eher symbolisch als realistisch: Sie symbolisiert die Varietät, den Kontakt und die Vermischung von Kulturen und Sprachen (WilsonWilson, Rita, »Cultural Mediation«, 244f.). Entsprechend wird in François OstsOst, François Arbeit Traduire. Défense et illustration du multilinguisme eine Ethik der Mehrsprachigkeit zum Standard einer gerechten Gesellschaft erhoben, die sich als dritter Weg zwischen universeller Sprache und Rückzug auf Einzelsprachen des Anderen versteht (OstOst, François, Traduire, 289). Die Auseinandersetzung mit Fragen der Mehrsprachigkeit hat also eine ausgeprägte ethische Dimension: Man wird in familiäre, ökonomische, politische und nationale Umstände hineingeboren, die die sprachliche Entwicklung und Zukunft des Individuums und der Gemeinschaft bestimmen. Der sprachliche Habitus des Sprechers umfasst voneinander nicht zu trennende technische und soziale Kompetenzen, die die Fähigkeit zu sprechen und die Fähigkeit, sich auf eine bestimmte, sozial geforderte bzw. angemessene Art und Weise zu artikulieren, determiniert. Vor diesem Hintergrund ist die sprachliche Kompetenz als Grundlage der sprachlichen Kommunikation auch immer von Herrschaft und Macht durchzogen (BourdieuBourdieu, Pierre, »Die verborgenen Mechanismen«, 81). Sprachen sind infolgedessen ein Thema für Gerechtigkeitstheorien geworden, die über die Kompensation von Ungleichheiten nachdenken. So schlägt beispielsweise Philippe Van ParijsVan Parijs, Philippe in Linguistic Justice for Europe and the World (2011) vor, Mitglieder privilegierter Sprachgemeinschaften zu besteuern, um damit so die Übersetzungen für weniger sprecherstarke Sprachen zu finanzieren, denn Übersetzungsleistungen sind an fachliche Kompetenzen und finanzielle Mittel gebunden, die ungleich verteilt sind (LeschLesch, Walter, Übersetzungen, 26). Eine ethisch vertretbare Organisation sprachlicher Diversität tritt angesichts der Dominanz des Englischen als globale Lingua Franca vermehrt in den Mittelpunkt (ebd., 23). Die schriftstellerische Wahl einer Vehikularsprache statt einer Kleinsprache hat vor diesem Hintergrund, so Georg KremnitzKremnitz, Georg, auch unmittelbar ethische Implikationen für die Auseinandersetzung zwischen sprachlich-kultureller Peripherie und Zentrum (KremnitzKremnitz, Georg, Mehrsprachigkeit in der Literatur, 202–212). Eine Ethik der Mehrsprachigkeit bezieht sich auf die Präferenz für Kommunikationssituationen, in denen man Perspektivenwechsel einüben und sich »in die Sichtweise von anderen Gesprächsteilnehmern hineinversetzen kann« (LeschLesch, Walter, Übersetzungen, 21). Hier ist die Nähe zur Diskursethik, wie sie beispielsweise von Jürgen HabermasHabermas, Jürgen vertreten wird, kaum zu übersehen. In Habermas’ Diskursethik ist jede ethische Kommunikation primär sprachlich verfasst, und aus diesem Grund müssen denn auch die sprachlichen Strukturen als Begründung und Mitteilung von Normen und Werten unter die Lupe genommen werden. Als endgültiges Moralprinzip gilt bei Habermas das diskursethische Prinzip, dass »[e]ine Norm nur dann Geltung beanspruchen« dürfe, »wenn alle von ihr möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses Einverständnis darüber erzielen (bzw. erzielen würden), daß diese Norm gilt« (HabermasHabermas, Jürgen, »Diskursethik«, 76). Die Gleichberechtigung aller Gesprächspartner, die Anerkennung des Anderen und der Möglichkeitshorizont einer sprachlich bedingten konsensorientierten Auseinandersetzung mit Normen und Werten gilt auch als ethische Grundvoraussetzung für die mehrsprachige Kommunikation in der Literatur. Die implizite Verbindung von Mehrsprachigkeit und Rechtsstaatlichkeit wird auch von LeschLesch, Walter pointiert formuliert: Eine »Ethik der Mehrsprachigkeit« ist ihm zufolge »ein leidenschaftliches Plädoyer für die Zukunftsfähigkeit rechtsstaatlicher Verhältnisse und liberaler Demokratie und gerade nicht ein Rückzug in eine elitäre Sphäre von Kultur« (LeschLesch, Walter, Übersetzungen, 28).

Jeder Ethik der Mehrsprachigkeit liegt indes auch eine fundamentale Aporie zugrunde: Die prinzipielle Wertschätzung sprachlicher Diversität widerspricht der ethischen Zielsetzung kommunikativer Verständigung. Es ist aus ethischer Perspektive einerseits notwendig, den Muttersprachendiskurs zu dekonstruieren, da dieser die Öffnung auf den Anderen und seine Sprachigkeit verhindert; andererseits ist es notwendig, die Muttersprachensemantik zu unterstützen, da sie emanzipatorische Kraft hat und gesellschaftliche Differenzen aufzulösen sucht. So weist Danièle SallenaveSallenave, Danièle in À quoi sert la littérature? darauf hin, dass in Frankreich eine möglichst einwandfreie Beherrschung der Standardsprache durch alle Bevölkerungsgruppen ein ethisches Hauptanliegen der Republik sei: »La langue est une arme. Il est criminel d’en priver ceux qui en ont le plus besoin.«1 (SallenaveSallenave, Danièle, À quoi sert la littérature?, 48) Diese emanzipatorische Sicht auf die Nationalsprache gilt auch – obschon ex negativo – für den gesamten arabischen Sprachraum, dessen Einwohner weitgehend der Ansicht sind, dass ihnen eine tatsächliche Muttersprache fehlt. Der niederländisch-marokkanische Autor Fouad LarouiLaroui, Fouad zum Beispiel betont vor diesem Hintergrund, dass das klassische Arabisch genauso wenig wie das Französische Sprachen der marokkanischen Nation sind. Aus dieser Tatsache folgt auch die Unmöglichkeit, eine marokkanische Nationalliteratur zu etablieren: »The Moroccan writer uses the language of the Other or the language of others: either way, it’s mission impossible.« (LarouiLaroui, Fouad, »A Case of ›Fake Monolingualism‹«, 43)

Im vorliegenden Artikel wird aus zwei Perspektiven ein Licht auf die Ethik der Mehrsprachigkeit geworfen. Zum einen steht das Verhältnis zwischen Alterität und Sprachreflexivität im Vordergrund, zum anderen wird die ethische Bedeutung der Übersetzung erläutert. Die Mehrsprachigkeit in der Literatur ist oft ein Zeichen für eine hohe Sprachreflexivität, die die Kontingenz sprachlicher Regelsysteme beleuchtet (RadaelliRadaelli, Giulia, Literarische Mehrsprachigkeit, 38). Durch die Hervorhebung der Arbitrarität sowie der Referenzlosigkeit der Sprachzeichen wird die Idee des ›Sprachbesitzes‹ einer dekonstruktiven Kritik unterzogen. Die Sprache kommt immer schon vom Anderen, was im Endeffekt dazu führt, dass der Unterschied zwischen Mutter- und Fremdsprache in der mehrsprachigen Literatur oft relativiert wird (HeimböckelHeimböckel, Dieter, »Einsprachigkeit – Sprachkritik – Mehrsprachigkeit«, 142; SabischSabisch, Andrea, Inszenierung der Suche, 56). Der Übersetzung als analytischer Kategorie, theoretischem Konzept und sprachlicher Praxis kommt in der Auseinandersetzung mit Mehrsprachigkeit und Ethik eine besondere Bedeutung zu. Im Zuge der kulturellen Wende in der Literatur- und Kulturwissenschaft ist die Übersetzung als Medium fremder Kulturen und interkultureller Kommunikation sowie auch als Dekonstruktion der Ideologie der Muttersprache vermehrt in den Blick gerückt worden (BaumannBaumann, Uwe, »Übersetzungstheorien«, 679). Angesichts der Vielfalt der Lebenswelten im Zeitalter der Globalisierung ist die Auseinandersetzung mit Fragen der Übersetzbarkeit und Unübersetzbarkeit von ethischer Bedeutung, weil die fundamentale Aporie einer Ethik der Mehrsprachigkeit, ihre »unmöglich[e] Notwendigkeit« bzw. »notwendig[e] Unmöglichkeit« (MartynMartyn, David, »Unmögliche Notwendigkeit«) in ihr in besonderem Maße aufleuchtet. Auf der einen Seite dient die Übersetzung der intersubjektiven Kommunikation: »[I]t is as objects of communication that texts, any text, can be subjected to translation. All translations, in this sense, are communicative acts.« (NeubertNeubert, Albrecht, »Some of Peter Newmark’sNewmark, Peter Translation Categories Revisited«, 71) Auf der anderen Seite macht die Übersetzung, wie Michael WetzelWetzel, Michael betont, das Fehlen eines Eins-zu-Eins-Verhältnisses zwischen Ausgangs- und Zielkultur offensichtlich und somit auch die Einzigartigkeit und Fremdheit jeder einzelnen Sprache: »Das Monitum der Unübersetzbarkeit fordert auch die Achtung der anderen Sprachen als Sprachen der anderen in ihrer Einzigartigkeit, die sich nicht übertragen, in ihrer Fremdheit reduzieren läßt.« (WetzelWetzel, Michael, »Alienationen«, 154)

Literatur und Mehrsprachigkeit

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