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c) Mündlichkeit/Schriftlichkeit

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Die beschriebenen Varietäten lassen sich bezogen auf den Grad der Standardisierung ordnen, womit zugleich die Frage von Mündlichkeit und Schriftlichkeit stärker in den Blick kommt. Hochgradig standardisiert sind dabei vor allem die Standardsprachen, wobei Standardisierung im Sinne der Kodifikation von Normen verstanden werden soll, die zugleich einen präskriptiven Charakter haben und damit die Sprachrichtigkeit bestimmen. Diese sollen etwa im Zuge des Schulunterrichts vermittelt und durchgesetzt werden, mit der Folge, dass Normabweichungen hier negativ sanktioniert werden. Die korrekte Beherrschung der Standardsprache ist zudem ein relevanter Faktor in Bezug auf gesellschaftliche Teilhabe, insbesondere mit Blick auf eine akademische Orientierung. Dialekte sind demgegenüber nicht-standardisierte Varietäten, wenngleich das Kriterium der Sprachrichtigkeit auch hier gilt und diese im Spracherwerbsprozess informell (ungesteuert) vermittelt wird. Insbesondere Jugendsprachen zeichnen sich dagegen durch gezielte Überschreitungen der in der Standardsprache gültigen Normen aus.

Die Standardsprache ist zugleich die einzige Varietät, für die Bimedialität, verstanden als Nebeneinander von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, konstitutiv ist, wohingegen Dialekte prinzipiell auf das Medium der Mündlichkeit beschränkt sind (und daher mit den vorhandenen orthografischen Systemen auch nur unzureichend erfasst werden können). Mündlichkeit (gesprochene Sprache) und Schriftlichkeit (geschriebene Sprache) beziehen sich jeweils auf ein identisches Sprachsystem, sind aber kategorial zunächst dadurch unterschieden, dass sie verschiedene mediale Ausdrucksformen (phonisch vs. graphisch) vertreten, die zwar prinzipiell einen kategorial klar abgrenzbaren Kommunikationsrahmen etablieren, Übergangsformen aber dennoch zulassen. Zu den Parametern der Mündlichkeit lassen sich etwa Dialogizität, Sprecherwechsel, face-to-face-Interaktion und Spontaneität zählen, während Schriftlichkeit stärker durch Kriterien der Monologizität, des nicht vorhandenen Sprecherwechsels, der räumlich-zeitlichen Distanz und der Reflektiertheit bestimmbar ist. Eine Differenzierung nach den Gesichtspunkten der Ausdrucksweise bzw. Versprachlichungsstrategie (konzeptionelle Dimension) und Realisierung (mediale Dimension) zeigt unterschiedliche Kombinationsmöglichkeiten, worauf insbesondere Peter KochKoch, Peter und Wulf OesterreicherOesterreicher, Wulf (»Schriftlichkeit und Sprache«) hingewiesen haben. Demnach ist etwa eine Grußkarte oder eine SMS zwar medial der Schriftlichkeit zuzuordnen, konzeptionell aber (eher) der Mündlichkeit, während etwa ein wissenschaftlicher (medial) mündlicher Vortrag als konzeptionell schriftlich zu bestimmen ist. Demgegenüber sind Gespräche unter Freunden sowohl konzeptionell als auch medial mündlich, Gesetzestexte sowohl konzeptionell als auch medial schriftlich. Merkmale gesprochener Sprache (konzeptioneller Mündlichkeit) sind Häufungen parataktischer Satzstrukturen oder auch Konstruktionsabbrüche, ein eher eingeschränkter Wortschatz, häufigere Wiederholungen, regionale/dialektale Merkmale sowie der Einsatz von nonverbalen Mitteln (Mimik, Gestik). Gesprochene Sprache ist insofern weniger stark normiert als geschriebene. Aufgrund der unterschiedlichen situativen Rahmungen (Raum/Zeit-Kontinuum) und sonstiger kategorialer Differenzierungen lässt sich Mündlichkeit eher als ›Sprache der Nähe‹, Schriftlichkeit eher als ›Sprache der Distanz‹ bestimmen. Eine Differenz besteht zudem in Hinblick auf die prinzipielle Flüchtigkeit der mündlichen gegenüber der Festigkeit (im Sinne der Fixierung auf einem Speichermedium und der Archivierbarkeit) der geschriebenen Sprache.

In historischer Sicht ist Schrift gegenüber der Mündlichkeit generell als sekundäres System anzusehen, wobei der Grad der Abhängigkeit deutlich differieren kann. Insbesondere moderne phonetische Schriften (Alphabetschriften), deren nahöstliche Vorläufer etwa 3500 Jahre alt sind, zeigen eine im Verhältnis zu piktografischen oder logografischen Schriften enge Anbindung an die Mündlichkeit durch Nachbildung der Lautlichkeit (siehe II.6). Für die Verschriftlichung vieler europäischer Volkssprachen erfolgte dieser Prozess unter Verwendung lateinischer Buchstaben, wobei über einen langen Zeitraum eine beträchtliche Variabilität erkennbar bleibt, die auch durch die Problematik begründet ist, dass die Lautwerte der (lateinischen) Buchstaben nicht ohne Weiteres mit der Lautlichkeit der Volkssprachen zur Deckung gebracht werden konnte. In der deutschen Sprache erfolgte die allmähliche Etablierung zur voll entwickelten (polyvalenten) Schriftsprache parallel zu einer immer stärkeren Normierung der Rechtschreibung, wobei eine erste allgemeingültige Normierung im Sinne einer Orthografie (bezogen auf das deutsche Kaiserreich) erst 1903 (DudenDuden, Konrad) erfolgte. Zwar unterliegt auch die Aussprache einer Normierung, im Vergleich zur Schriftlichkeit sind in der Mündlichkeit Normabweichungen – zumindest bezogen auf das Deutsche – aber eher tolerabel, bzw. besteht eine größere Normvarianz. So verzeichnet Theodor SiebsSiebs, Theodor (Deutsche Aussprache, 191969) neben einer ›reinen‹ auch eine (durchaus standardgemäße) ›gemäßigte‹ Aussprache, entsprechend auch der Ausspracheduden. Die unterschiedliche Festigkeit der mündlichen und schriftlichen Sprachebene kann im Zuge des allgemeinen Sprachwandels zu einem mehr oder weniger großen Abstand zwischen den medialen Ausprägungen führen, wodurch sich Sprachen (bezogen auf ihre Schriftlichkeit) als mehr oder auch als weniger phonetisch bestimmen lassen: Relativ unphonetisch sind etwa das Französische und Englische, während das Deutsche als eher phonetisch zu betrachten ist. Eine Eins-zu-Eins-Entsprechung bezogen auf Phonem/Graphem-Beziehungen besteht aber auch hier nicht. So hat beispielsweise die Graphie <s>, abhängig vom Lautkontext, (zum Teil) unterschiedliche Lautqualität ([z] in Sonne, [ʃ] in Spiel, [s] in Wespe).

Wenngleich in historischer Sicht vom Primat der Schriftlichkeit gegenüber der Mündlichkeit auszugehen ist, ist eine Umkehrung dieses Verhältnisses durchaus möglich. Beispiel hierfür ist die Etablierung von Nationalsprachen wie das moderne Hebräisch (Ivrit) oder Litauisch, die zunächst in der Schriftlichkeit (normierend) vorgeformt wurden. Eine Vorrangigkeit der Schriftlichkeit zeigt sich daneben insbesondere bei künstlichen Sprachen wie Esperanto (vgl. II.4), die als ›Schreibtischkonstrukte‹ angesehen werden können. Bei natürlichen Sprachen können die Abhängigkeiten im Entwicklungsprozess auch variieren. So folgt bezogen auf das Deutsche die Schriftlichkeit zunächst der Mündlichkeit (in einem engen Sinne bezeichnet durch den Terminus Verschriftung). In späteren Phasen und unter dem Einfluss bewusster Spracharbeit (etwa durch die Grammatiker im Barock) wurde die Schriftsprache dagegen zum Muster der Mündlichkeit bzw. ging die schriftliche Seite bei der Etablierung der Standardsprache voran. In areallinguistischer Hinsicht gilt dies bezogen auf den niederdeutschen Raum auch in Hinblick auf die Etablierung einer überregionalen Standardsprache durch ›Sprechen nach der Schrift‹.

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