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2. Das Themenspektrum der Höflichkeitsforschung
ОглавлениеObwohl die frühen Theorien von Lakoff, Leech und Brown/Levinson heute noch weit verbreitet sind, ist es eine wesentliche Errungenschaft des sogenannten „diskursiven Denkansatzes“ in der Höflichkeitsforschung, sich wieder einem emischen Verständnisemischen Verständnis zuzuwenden. Dieses berücksichtigt die Verhandelbarkeit von wertenden Konzepten wie ‚höflich‘, ‚unhöflich‘, ‚frech‘ usw. sowie die Einbettung der beobachteten sozialen Handlungen in den lokalen, kontextgebundenen Rahmen ihrer moralischen Ordnung (siehe z.B. Kádár/Haugh 2013, 95). Frühe Theorien können später selbstverständlich verschieden ausgelegt werden. Diese Einsicht gerät jedoch leicht in den Hintergrund, sobald Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die vorgeschlagenen ‚Regeln‘ rein mechanisch anwenden. Die diskursiven Denkansätzediskursiven Denkansätze dagegen berücksichtigen, dass es verschiedene gesellschaftliche Ideologien zu Höflichkeit und Unhöflichkeit gibt, wobei die beobachteten Praktiken von diesen allgemeineren Normen auch abweichen können. Culpeper (2008, 30) versucht diesem Anspruch gerecht zu werden, indem er personelle, kulturelle, situative und kotextuelle Normen einführt, welche Interaktion beeinflussen. Kádár/Haugh (2013, 95) sprechen von a) lokalisierten Normen, b) gruppenbasierten Normen (community of practicecommunity of practice/organisational or other group-based norms) und c) gesellschaftlichen/kulturellen Normen, die die Bewertung von Höflichkeit mitbestimmen.
Manche Kritikerinnen und Kritiker des diskursiven Ansatzes sind der Auffassung, dass die Erforschung von (Un)Höflichkeit sinnlos werde, wenn das Verständnis dessen, was (Un)Höflichkeit bedeutet, den Interagierenden selbst überlassen werde (siehe Locher 2012, 51–53, für eine Entgegnung). Zum Beispiel verwendet Haugh (2013), an sich ein Anhänger der diskursiven Strömung, in diesem Zusammenhang eine interessante Formulierung. Er beklagt, dass Locher/Watts (2005, 2008) „gezwungen sind, sich auf Aussagen zu beschränken wie ‚letztendlich muss die Bewertung, ob etwas als höflich, unhöflich usw. empfunden wird, offenbleiben‘“ (Haugh 2013, 55, kursive Hervorhebung durch die Autorin). Er fragt „[w]ie können wir als Analysierende mit Sicherheit Fälle von (Un)Höflichkeit identifizieren?“ (Haugh 2013, 55, Übersetzung der Autorin). Tatsächlich haben Locher/Watts bei der Beschreibung konkreter Fälle Sätze wie diese geäußert, sie formulieren hiermit jedoch keineswegs eine Niederlage. Vielmehr beabsichtigen sie, dem qualitativen Charakter der Analyse sowie dem diskursiven Denkansatz gerecht zu werden. Locher/Watts sind nicht zur Kapitulation „gezwungen“, sondern verstehen Formulierungen wie „es muss offenbleiben, ob das Verhalten als höflich eingeschätzt wird“ als ihrer theoretischen Grundposition entsprechend. Sie bemühen sich um eine qualitative Interpretation anhand linguistischer und nicht-linguistischer Anhaltspunkte, die die interpersonale Haltung der beiden Interagierenden zueinander sowie zu den impliziten (Un)Höflichkeitsnormen offenbaren. Eine solche Auffassung gründet auf der Überzeugung, dass gesellschaftliche Normen fließend sind und interaktiv verhandelt werden; bei gleichzeitiger Anerkennung der Bedeutung von kognitiven und historischen Vorannahmen bzw. ‚RahmenRahmen‘ (FramesFrames). Wie erwähnt können weit verbreitete Auffassungen gleichzeitig mit lokalen Normen einer Community of PracticeCommunity of Practice bestehen. Da Höflichkeit hier als eine Kategorie der Interagierenden selbst verstanden wird, die das eigene und das Verhalten anderer bewerten, und zwar gleichermaßen aufgrund gesellschaftlicher Vorstellungen und Wertesysteme wie aufgrund lokaler Normen, wird die formale Ausprägung von Höflichkeit jeweils variieren (vgl. auch Kádár/Haugh 2013, 69 bzgl. der Idee von Höflichkeit als sozialer Praxis). Die Existenz kultureller Unterschiede im Verständnis dessen, was Höflichkeit ausmacht, sowie die Geschichtsgebundenheit des Begriffs und seine verschiedenen Konnotationen in unterschiedlichen Sprachen sind hinreichend belegt worden. Daher kann es nicht das primäre Ziel sein, bestimmte Oberflächenerscheinungen als eindeutig höflich oder unhöflich zu bestimmen. Stattdessen offenbart der Ansatz von Locher/Watts die Verhandelbarkeit relationaler Bedeutung sowie das Ringen um angemessenen Verhaltens.
Darüber hinaus sollte nicht vergessen werden, dass Forschungsziele variieren. Die frühen Theorien verwendeten den Begriff Politeness als Kurzform zur Beschreibung fundamentaler Prozesse bei der Bedeutungsgenerierung. Das oben von Haugh zitierte Problem bezieht sich also auf einen vergleichsweise engen Anwendungsbereich, während die frühen Höflichkeitstheorien, die sich sowohl von der pragmatischen Wende inspirieren ließen als auch zu ihr beitrugen, pragmatische Variation im Allgemeinen untersuchen wollten: Lakoff schlug aufbauend auf Grices Kooperationsprinzip (Grice 1975) und in Analogie zu syntaktischen Sprachgebrauchsregeln drei Höflichkeitsregeln vor. Leech postulierte ein Höflichkeitsprinzip (politeness principlepoliteness principle) als eine der tragenden Säulen in seiner Theorie der Interpersonalen Rhetorik, die die Entstehung von Bedeutung generell, d.h. nicht nur von Höflichkeit, erklären sollte. In den Arbeiten von Brown/Levinsonvon Brown/Levinson wird das Konzept des GesichtsGesichts (faceface) eingeführt, das die psychologischen Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und Distanz berücksichtigt. Diese Ansätze betonen Faktoren, welche Interaktion beeinflussen (z.B. Nähe und Distanz, Machtverhältnisse/Hierarchien, der kulturelle Kontext), und tragen so zur Theoriebildung darüber bei, wie menschliche Beziehungen durch die Wahl sprachlicher Mittel charakterisiert werden und wie sprachliche Anhaltspunkte konkrete zwischenmenschliche Deutungen begünstigen. Im Rahmen eines solchen breiteren Ansatzes zur Erforschung von Sozialität und (sprachlicher) Beziehungskonstruktion wird mit Konzepten wie Gesichtsarbeit (facework), Beziehungsmanagement (rapport managementrapport management) und Beziehungsarbeit (relational workrelational work) gearbeitet. Diesen Forschungsansatz nennen Graham/Locher Interpersonal PragmaticsInterpersonal Pragmatics bzw. Interpersonale Pragmatik, womit die relationale bzw. interpersonale Perspektive auf Interaktion bezeichnet wird, und zwar unabhängig davon, welche Analysekonzepte letztlich angewandt werden (Locher/Graham 2010, 2; vgl. auch Haugh et al. 2013, 9). Eine interpersonale Perspektive bedeutet nicht, dass ausschließlich (Un)Höflichkeitsaspekte interessieren, aber diese können durchaus im Vordergrund stehen.
In den vergangenen Jahren haben Forscherinnen und Forscher eine Reihe theoretischer Konzepte und Positionen angewendet, um Interaktionen von einer interpersonalen Warte aus zu diskutieren (wobei die Kompatibilität untereinander variiert, auch wenn der klassische Höflichkeitsansatz in jedem Fall erweitert wird). So entwirft Arundale (2010a, b) eine Theorie zur Konstituierung von Gesicht, die, wie er betont, nicht mit Höflichkeitstheorie gleichzusetzen ist. Langlotz (2010, 2015) entwickelt eine sozio-kognitive Theorie situationsgebundener sozialer Bedeutung. Um Interaktionen unter Berücksichtigung ihres lokalen und sozialen Kontexts zu diskutieren, übernehmen Locher/Watts (2005, 2008) das Konzept der Rahmen-Analyse (frames), das aufgrund seiner historischen und kognitiven Dimension und Flexibilität besticht. Im Gegensatz dazu schlägt Garcés-Conejos Blitvich (2013) vor, Faircloughs Konzepte Diskurs, Genre und Stil zu verwenden, um die dynamische Herausbildung von Normen zu beschreiben. Spencer-Oatey (2007, 2011), Locher (2008, 2012, 2014) und Garcés-Conejos Blitvich (2009) weisen darauf hin, dass eine enge Verbindung besteht zwischen Identitätskonstruktion und Höflichkeitsfragen, wie sie zuvor in der (Un)Höflichkeitsliteratur diskutiert wurden. Langlotz/Locher (2012, 2013, 2017; Locher/Langlotz 2008), Spencer-Oatey (2011), Culpeper (2011), Culpeper et al. (2014) und Kádár/Haugh (2013) betonen die maßgebliche Rolle von Emotionen für das Aushandeln von Bedeutung und Beziehungen und knüpfen somit an Erkenntnisse aus der Psychologie und den Kognitionswissenschaften an. Culpeper/Haugh (2014, 197–198) plädieren für eine stärkere Erforschung interpersonaler Einstellungen (inkl. zwischenmenschlicher Emotionen und wechselseitiger Bewertungen). Culpeper (2011), Kádár/Haugh (2013) und Haugh (2015) loten die Aussagekraft metapragmatischer Signale aus, und Haugh (2015) konzentriert sich auf Implikaturen bezüglich (Un)Höflichkeit.
Diese Übersicht ist zugegebenermaßen lückenhaft und unvollständig. Dennoch lässt sich erkennen, dass sich die jüngere (Un)Höflichkeitsforschung gerne und auf kreative Weise der Konzepte anderer Fachrichtungen bedient, um die Analyseverfahren zur Erfassung dessen, was auf der Beziehungsebene geschieht, zu verfeinern. Allerdings variiert die Rolle, die (Un)Höflichkeit in diesen Forschungsansätzen spielt, stark. Für die einen mag eine (Un)Höflichkeitsnorm einer unter vielen potenziellen Ansätzen sein, Interaktionen bzw. Bedeutungsgenerierung zu erklären. Für andere stellt (Un)Höflichkeit die zentrale soziale Größe zur Erklärung von Variation dar. Man ist also gut beraten, das jeweilige Erkenntnisinteresse, das mithilfe der gewählten Methodik verfolgt werden soll, genau zu fassen.