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Die Unhöflichkeit der Verhältnisse
ОглавлениеJürgen Roth
Höflichkeit ist ein in unserem Alltag allgegenwärtiges Phänomen, das sich nicht nur in unserem nichtsprachlichen Verhalten äußert, sondern auch in unserer mündlichen und schriftlichen Kommunikation. In der Regel ist sprachliche Höflichkeit mit der jeweiligen Kommunikationssituation und Textfunktion vereinbar.
Deutsche Sprache – Zeitschrift für Theorie Praxis Dokumentation 2/2003
Die Sprache verkommt, und das Leben verkommt auch, die feinen Unterschiede verschwinden, der grobe Keil wird getrieben, bald gibt es keine Höflichkeitsform, keinen Irrealis mehr, weder in der Grammatik noch im Umgang der Menschen untereinander.
Ludwig Harig, Die Zeit, 11. Juli 1986
Angesichts der allbekannten nahezu allseitigen, beinahe epidemischen VerrohungVerrohung und Verwüstung der alltäglichen Kommunikation in den sogenannten sozialen Medien und in den Kommentarspalten im Internet – sowie, möchte ich ergänzen, denn auch dies ist ex negativo eine elementare Frage sprachlicher Höflichkeit, in Anbetracht der Erosion des Sprachbewußtseins, des Stils, des Ausdrucks, der Flexionsformen und der Orthographie – „warnte“ der Bayerische Lehrerverband BLLV laut taz vom 8. September 2016 „vor der Auswirkung haßerfüllter Sprache auf Kinder“. In einem Manifest mit dem Titel „Haltung zählt“ ließ er verlauten: „Wir beobachten mit größter Sorge, wie sich die Stimmung in den sozialen Netzwerken und die alltäglichen Umgangsformen in unserer Gesellschaft verändern“, und man nehme eine „zunehmende Aggressivität gegenüber Andersdenkenden, Ausländern und Flüchtlingen wahr“.
Auch der Kulturwissenschaftler Thomas Mießgang diagnostizierte in seinem 2013 erschienenen Buch Scheiß drauf – Die Kultur der Unhöflichkeit (Berlin) eine „Zunahme (einen Tsunami?) an Grobheit, an Aggressivität, an schlechten oder gar keinen Manieren in den urbanen Räumen und den medialen Phantasmagorien, die die sozialen Milieus überformen“. „Die moderne Gesellschaft hat kein Konzept mehr für Würde, Wert oder Anerkennung“, heißt es an anderer Stelle. „Die Arbeitswelt […] hat sich seit den prosperierenden Nachkriegsjahrzehnten mit ihren deutlichen Verbesserungen der Bedingungen für Arbeitnehmer in der Krisenepoche in ein Schlachtfeld verwandelt, auf dem ein permanenter Psychokrieg ausgefochten wird“, die soziale Interaktion gleiche einem „Eliminationsspiel“, dem selbstredend alles Spielerische fehlt, und auf den „sozialen Plattformen“ seien derart viele „innovative Formen der niederträchtigen Beleidigung und der perfiden Bloßstellung von Mitmenschen“ zu besichtigen, daß man „ein Horrorpanorama der prä- oder, wenn man so will, postzivilisatorischen Niedertracht“ gewahre.
Der, zum dritten, Soziologe Colin Crouch, Autor des Standardwerks Post-Democracy, beschreibt in Le Monde diplomatique vom August 2015, wie im Zuge der neoliberalneoliberalen Kolonisation öffentlicher Dienstleistungssektoren und ihrer Verwandlung in angeblich so weise wie effiziente Märkte der Begriff und das Konzept des Bürgers entsorgt und durch den allgegenwärtigen „KundenKunden“ ersetzt wurde – eine lexikalische Verschiebung, in der sich – verschleiert – nicht allein der Verlust oder die intendierte Zerstörung von Dezenz und Rücksichtnahme ausdrückt.
„Was bedeutet es, wenn im Bahnhof heute statt ‚Passengers for Manchester please change at Birmingham‘ die Durchsage ‚Customers for Manchester …‘ erklingt?“ fragt Crouch und fährt fort: „Eine durchaus zweifelhafte Formulierung, da man annehmen könnte, daß die ‚customers for Manchester‘ die Stadt nicht bereisen, sondern kaufen wollen. Soll die Umbenennung dazu führen, daß das Bahnpersonal die vormaligen Fahrgäste respektvoller behandelt? Das allerdings ließe sich auch erreichen, indem man den Mitarbeitern im Zuge ihrer Ausbildung beibringt, daß Fahrgäste keine Objekte, sondern Bürger sind“ – die eben nun, als KundenKunden, nicht mehr als Gäste, denen man zuvorkommend begegnet, nach Belieben und aufdringlich angeduzt und gegängelt, entrechtet, überwacht, gegeneinander ausgespielt und ausgenommen werden können. Das Wort „KundeKunde“, der einer Legende zufolge König sei, also ist eine klassische AntiphraseAntiphrase. „Erst ihre Verwandlung in KundenKunden“, so Crouch, „macht sie [die vormaligen Bürger] tatsächlich zu Ausbeutungsobjekten.“
Soweit ich es einzuschätzen vermag, ist der Terminus „face-threatening acts“ oder „FTAs“ von Brown und Levinson (1987) in der linguistischen Höflichkeitsforschung in gewisser Weise kanonisch geworden. Umgekehrt „bezeichnet Höflichkeit ein Verhalten, bei dem das Gesicht des Gegenübers gewahrt wird. Dieser Respekt vor dem anderen befriedigt zwei grundlegende Bedürfnisse: zum einen das Verlangen nach Ungestörtheit und Handlungsfreiheit, zum anderen das nach Anerkennung“ (Bild der Wissenschaft 1/2013).
Zu kurz kommen bei der formalpragmatischen Herangehensweise und zumal in Browns und Levinsons harmonistischer Perspektive allerdings zahlreiche kontext- und milieubedingte Aspekte von Unmanierlichkeit, Ausgrenzung, Diskriminierung und, vice versa, Achtsamkeit, Freundlichkeit, Zuwendung.
Beispielsweise werden unter Jugendlichen deviante, ironisch entstellte Höflichkeits- und Unhöflichkeitsvorstellungen gepflegt. „Eine Bitte“, legt Susanne Donner in Bild der Wissenschaft dar, „verstehen die Jugendlichen als Herausforderung, den Wunsch dem Bittsteller so lange wie möglich auszuschlagen. Er wird ignoriert, oder die Jugendlichen erfinden fiktive Gegenargumente. Je unterhaltsamer diese sind, sprich: je mehr es zu lachen gibt, um so besser. […] Nach Brown und Levinson ist jede ausgeschlagene Bitte eine massive Gesichtsverletzung. Doch: ‚Die Jugendlichen empfinden das Gefrotzel untereinander nicht als unhöflich‘, weiß [Martin] Hartung [vom Mannheimer Institut für Gesprächsforschung]. ‚Es ist ihre Form der alltäglichen Kommunikation.‘ Und sie wissen sehr wohl, daß sie nur in der Clique so miteinander umspringen können.“
Oder ein anderes Beispiel. Regional und dialektal begrenzt finden sich rüdeste Schmähungen, die das Gegenteil dessen bedeuten, was mit den Gepflogenheiten nicht Vertraute verstehen. Im fränkischen Sprachraum etwa gelten zahlreiche Invektiven keineswegs als Beleidigungen. In einer Familie, die ich gut kenne, ist die Anrede „Arschlöchlein!“ die höchste Form der verbalen Liebkosung – ein Paradeexempel für die „kosende Schelte“ (Friedrich Kur: How to use Dirty Words – Schimpfwörter und Beleidigungen, Frankfurt/Main 1997).
Gewiß, es gibt Wörter und Wendungen „von unüberbietbarer Brutalität und Gemeinheit“ (Kur), das vor nicht allzulanger Zeit kurrente „Du Scheißopfer!“ läßt einen schaudern. Solch „sprachliches Verhalten oder Handeln im Affekt“ (Kur) will treffen, verletzen, schädigen, bisweilen vernichten, obwohl „schimpfen“ ursprünglich „Scherz treiben, spielen, verspotten“ bedeutet hat, das Schimpfen diente der Kurzweil.
„Das Schimpfen gehört ganz gewiß zur ‚Grundausstattung‘ des animal loquens“, heißt es bei Friedrich Kur, der betont, daß Kraftwörter aus „Frust, Wut, Enttäuschung, Liebeskummer und zur Selbstbehauptung in allen möglichen Widrigkeiten des Lebens hilfreich sein können“. Sie entlasten und vermögen dem berechtigten Widerstand gegen Zumutungen und Übergriffe aller Art Ausdruck zu verleihen (Mießgang stuft Unhöflichkeit „auch [als] eine Form des symbolischen Klassenkampfes“ ein), und es ist kaum von der Hand zu weisen, „daß die strategischen Gründe für Unhöflichkeit eines erwischten Parksünders andere sind als die eines Militärausbilders“ (Gesprächsforschung Online – Zeitschrift zur verbalen Interaktion, Nummer 12, 2011). Gezielte verbale Verletzungen wären somit hinsichtlich der jeweiligen sozialen Rollen, der Machtgefüge und -gefälle, der institutionellen Rahmenbedingungen, nicht zuletzt hinsichtlich der situativen Variabilität zu betrachten – Wolfgang Frühwald nennt als Kriterien „Mimik, Gestik, Körperhaltung und Sprachmelodie“ (Forschung und Lehre 6/2010); genauso wie, ohne Dialektik kommt man schwerlich aus, Höflichkeit, bereits Knigge monierte es, reine Heuchelei oder eine Demütigung sein kann. Es gebe, schrieb er, „eine Art von Herablassung, die wahrhaftig kränkend ist, wobei der leidende Teil offenbar fühlt, daß man ihm nur ein mildtätiges Almosen der Höflichkeit darreicht. Endlich gibt es eine abgeschmackte Art von Höflichkeit, wenn man nämlich mit Leuten von geringerm Stande eine Sprache redet, die sie gar nicht verstehen, die unter Personen von der Klasse gar nicht üblich ist, wenn man das konventionelle Gewäsche von Untertänigkeit, Gnade, Ehre, Entzücken und so ferner bei Personen anbringt, die an solche starken Gewürze gar nicht gewöhnt sind. Dies ist der gemeine Fehler der Hofleute.“ Und im Grünen Heinrich von Gottfried Keller stoßen wir auf folgende Passage: „Schon die Sprache, welche der große Haufen in Deutschland führt, war ihnen unverständlich und beklemmend; die tausend und abertausend „Entschuldigen Sie gefälligst, Erlauben Sie gütigst, Wenn ich bitten darf, Bitt‘ um Entschuldigung“, welche die Luft durchschwirrten und bei den nichtssagendsten Anlässen unaufhörlich verwendet wurden, hatten sie in ihrem Leben nie und in keiner anderen Sprache gehört, selbst das ‚Pardon Monsieur‘ der höflichen Franzosen schien ihnen zehnmal kürzer und stolzer, wie es auch nur in dem zehnten Falle gebraucht wird, wo der Deutsche jedesmal um Verzeihung bittet. Aber durch den dünnen Flor dieser Höflichkeit brachen nur zu oft die harten Ecken einer inneren Grobheit und Taktlosigkeit, welche ebenfalls ihren eigentümlichen Ausdruck hatten.“
Um die Konfusion weiter zu vergrößern: Das Bemühen um politische KorrektheitKorrektheit (und damit Höflichkeit), um die Ächtung gesellschaftlicher Exklusion und denunziatorischer respektive diskriminierender Sprechakte, ist nicht selten selbst hochgradig deplaziert, restringierend, herrisch und narzißtisch. Da wird sehr rasch vielerlei übersehen und verdrängt. „Ist die schwarze Community […] unter sich“, führt Thomas Mießgang aus, „kann das N-Wort durchaus zu einer kameradschaftlich-freundlichen Begrüßungsformel umsemantiert werden, zu einem wohlwollend-grobianischen Schulterklopfen, das vom geteilten Wissen über den Rassismus genauso erzählt wie von der Überwindung diskriminierender Diskurse in der ironischen Sprachverdrehung. Eine als Beleidigung intendierte Geste oder Wortprägung wird also dem Aggressor entrissen […] und von den Insultierten als positiv besetzte Kommunikationsformel verwendet oder gelegentlich sogar als Kampfwerkzeug gegen die Beleidiger eingesetzt.“
Hinzu kommt, daß durch die Bestrebungen, das öffentliche Sprechen nach Maßgaben der Political Correctness zu reinigen – und ich wähle bewußt das Wort „reinigen“ –, „bei nicht wenigen jungen Menschen das Verständnis von Ambivalenz und Ironie in Mitleidenschaft gezogen wird; daß die bloßstellende und befreiende Gewalt des uneigentlichen Sprechens und die Freuden der Disziplinlosigkeit einer ständigen, irgendwie protestantischen Selbstüberprüfung zum Opfer fallen, kurz: daß dem Lachen mißtraut wird“ (Titanic 6/2016). Verloren geht die Möglichkeit der Selbstreflexion und -relativierung qua Spaß und Sprachspiel, sauertöpfische Besserwisserei, die zum eliminatorischen Furor ausarten kann, gewinnt die Oberhand.
Wenig zu lachen haben mittlerweile auch einige Verfechter der akademischen Lehre in Freiheit. Unter der Überschrift „Gefühlte Argumente“ berichtete der Schriftsteller Ilija Trojanow am 27. April 2016 in der taz von einem „Kampf […], der inzwischen auf fast jedem Campus der USA entbrannt ist“. Geführt werde er „unter dem nichtssagenden Titel der ‚politischen KorrektheitKorrektheit‘“. „Immer öfter wird Sprachkritik zur Wortpolizei und diskursive Vielfalt zur dogmatischen Einfalt“, so Trojanow.
Und er erzählte von folgendem Vorfall: „Landesweit bekannt wurde ein Fall an der renommierten Yale University vom letzten Herbst. Die universitäre Verwaltung hatte vor Halloween in einem Rundbrief die StudentInnen aufgefordert, auf potentiell beleidigende Kostüme zu verzichten (das bezog sich konkret auf das ‚blackfacing‘, bei dem sich Weiße das Gesicht schwarz anmalen). Eine Dozentin verfaßte daraufhin eine Mail, in der sie mehr Lockerheit anregte, die Fahne der freien Meinungsäußerung schwenkte und die Sorge äußerte, daß Colleges zu Horten der ‚Zensur und Entmündigung‘ würden. ‚Gibt es keinen Platz mehr für einen jungen Menschen, ein wenig anstößig zu sein?‘ Daraufhin tobte ein Shitstorm, und die Frau sowie ihr Ehemann, Professor an derselben Universität, sahen sich heftigsten Angriffen ausgesetzt.“
Äußerst aggressiv sei die Forderung erhoben worden, „das Ehepaar zu entlassen“. Und das sei beileibe kein Einzelfall gewesen. „Es gibt eine Reihe von Dozenten“, erläuterte Trojanow, „deren Verträge wegen ähnlich gelagerter Fälle nicht verlängert wurden.“
Dieser erschreckende Wutwille der Entrüsteten zur Säuberung der sprachlichen und sozialen Welt pulverisiere, schlußfolgerte Trojanow, „Analyse und Urteilskraft“. Im näheren: „Gerade die Politik der eigenen Identität bedient sich der Gefühle als entscheidender Filter. Was als verletzend empfunden wird, ist anstößig. Und dagegen ist kein Argument gewachsen. Selbst die hehrsten Absichten zerschellen an den Klippen der Empfindsamkeit. Das gilt inzwischen für alle Gruppen, selbst für konservative Weiße. […] Es kann also jeder im Saft der eigenen Überempfindlichkeit schmoren.“ Die Konsequenzen für Lehrinhalte und -gegenstände sind verheerend: „Wenn StudentInnen sich erfolgreich beschweren können, daß ihnen ‚anstößige‘ Texte von Mark Twain und Edward Said (ein Beispiel von vielen) vorgesetzt worden seien, werden vorsichtige, karrierebewußte DozentInnen all jene Texte aussondern, die provozieren, verwirren und irritieren.“
Und das haben andere ja auch schon mal angeordnet.
„Die Sklaverei der deutschen Sprache ist in den Höflichkeitsformeln bis zum kriechendsten Unsinn gesunken und hat bloß dadurch die mehrsten Abstufungen des Knechtsinns gewonnen“, schimpfte Johann Gottfried Seume. Heute führt die Unterwerfung unter dekontextualisierende, outrierte, nicht selten fanatisch eingeklagte sprachliche Umgangsnormen zu erheblichen Einschränkungen von Entfaltungsmöglichkeiten. Der Blogger und Datenschutzaktivist Felix von Leitner, der entschieden für „mehr Empathie und eine Rückkehr zum Solidargedanken“, für „mehr Zusammenarbeit und weniger Kämpfen, mehr Respekt voreinander“ eintritt, beklagt sich in einem Interview auf nachdenkseiten.de (20. September 2016) über eine Kampagne der Amadeu-Antonio-Stiftung gegen „Hate-Speech“, die in Kooperation mit dem Bundesfamilienministerium initiiert wurde. „Unter dem Label der Bekämpfung von ‚Hate-Speech‘ wird jetzt eine moralische Grundlage für das Unterdrücken von unerwünschten Meinungen im Internet geschaffen“, legt er dar. „Zensur ist ein inhaltlich neutrales Machterhaltungsinstrument, das den Eliten dient, um den Rest der Bevölkerung daran zu hindern, sich darüber auszutauschen, was das Problem ist, daß es überhaupt ein Problem gibt und man nicht der einzige ist, der sich das fragt – und was hiergegen getan werden muß. […] Für eine Zensurinfrastruktur reicht es in diesem Sinne bereits aus, wenn Menschen sich nicht mehr trauen, bestimmte Themen zu diskutieren oder bestimmte Thesen zu diskutieren, weil sie mit einem öffentlichen Pranger rechnen müssen, wie ihn die Amadeu-Antonio-Stiftung nicht nur vorgeschlagen, sondern bereits betrieben hat.“
Den Meistermotzer und Eristiker Schopenhauer, der die Polemik ad personam und an die Adresse ganzer Gruppen von Menschen mit Wollust auf die Spitze trieb, würde man aus der Zunft der Philosophen ausschließen. Ebensowenig sähe der unbestechliche Herbert Wehner, der langjährige Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, in diesen Tagen der leeren, pflaumenweichen Politrhetorik der „Lächelmasken“ (Mießgang) noch Land. Er pflegte zu einer Zeit, als auf der Agora Konflikte mit politischen Kontrahenten mit notfalls erheblicher Schärfe, indes zivilisiert austragen wurden, die Kunst der Verbalinjurie, des gezielten Aktes verbaler Gewalt, wie kein zweiter. Wehners Schimpfattacken und -kanonaden, stets institutionell gerahmt, sind legendär, seine mit einer Rekordserie von Ordnungsrufen prämierten Schmähzwischenrufe sind Legion. Jeder Malediktologe hätte an Wehners Kreationen seine helle Freude: „Einstudierter Pharisäer!“ – „Wir können ja nicht auch noch die Dummheit verstaatlichen, die Sie verkörpern!“ – „Staatszwerg!“ – „Wenn man Sie sieht, vergeht einem die Lust am Kinderkriegen!“ – „Schämen Sie sich, Sie Frühstücksverleumder!“ – „Geistiges Eintopfgericht!“ – „Sie Salatöl!“
Verschwunden oder im Verschwinden begriffen also ist in bestimmten Bereichen der einerseits medial deformierten, andererseits medial uniformen Öffentlichkeit die klärende, konfrontative, bisweilen anarchische Intervention. Dafür nimmt sich in der alltäglichen Interaktion, scheint’s, jeder überall zu jedem Zeitpunkt die Freiheit, der plansten und niedersten Gesinnung freien Lauf zu lassen. Thomas Mießgang konstatiert, daß in dem Maße, in dem der „strategische GrobianismusGrobianismus“ zurückgedrängt wurde (und wird), „die Erosion des Sittengesetzes“ sich fortsetzt, „sich das Vulgäre ausbreitet“ und sich der „Verfall der Umgangsformen“ beschleunigt. „Die Struktur menschlicher Affekte und ihrer Kontrolle“ (Norbert Elias) scheint vielerorts zu zerbröseln.
Kaum noch jemand kann sich zum Beispiel in einer Lautstärke unterhalten, die aus dem Homo sapiens einen zivilisierten Menschen macht. An nahezu jedem Nebentisch in nahezu jedem Café sitzt eine Ansammlung von Peinfiguren, die ihre unmaßgeblichen Meinungen akustisch derart ostentativ ausbreiten, daß man sich die ridikülen Schweigekreise der achtziger Jahre zurückwünscht.
Die Verrottung der Lebensumstände, sie schreitet offenbar unaufhaltsam voran. Die Unerträglichkeit namens öffentliches Leben, das nur mehr „Gesellschaftswiderwillen“ (Peter Handke) auslöst: Es ist der permanente monadenhafte, egozentrische Aufruhr, der sinn- wie ziellose Krawall, das unentwegte Affekt- und Affektiergehabe. Jürgen Kaube erkennt darin – bei aller Gleichförmigkeit solcher Aufspreizungen, bei aller Homogenität solcher „Selbstverwirklichungs“-Hampeleien, die nichts mit fröhlicher Pluralität gemein haben – das „Recht zur Normalabweichung“: „Individualität heißt also nicht Originalität und schon gar nicht, daß es möglich wäre, ein Leben diesseits gesellschaftlicher Prägungen zu führen.“ Denn all diese angeblichen Individualisten sind durch und durch nichts anderes als begeistert Angepaßte. Sie gehorchen ausschließlich dem unausgesprochenen Zwang zur Exaltation, konformistische „Identitätspflege“ (derselbe) ist Pflicht.
Es ist aber nicht bloß das „Erlebnisvolk“ (Stefan Rose), das gewissermaßen als Autistenmasse auf jeden Anflug von Empathie pfeift; es sind nicht bloß die durch die Werbeindustrie, Aufpeitschermedien und andere soziopathisch-ideologische Apparate angestachelten und seelisch amputierten Unterklassen- und Randgruppenexistenzen, die durch die Welt ramentern, als gebe es weder Nachbarn noch Mitmenschen. Die spätkapitalistische Verelendung der Sitten und die Depravation der Gemüter, das insinuierte Naturgesetz befolgend, zu (über-)leben habe nur verdient, wer sich im Dauerkonkurrenzkampf lauter, härter, ungestümer, gemeiner und brutaler geriert als der Nächstbeste, machen vor keiner Schicht halt. Im Juste milieu, in den sogenannten bürgerlich-gebildeten Kreisen, sieht es keinen Deut besser aus.
Die Schriftstellerin Kathrin Röggla spricht in ihrem Essay „Reden in Zeiten der VerrohungVerrohung“ (Le Monde diplomatique, Mai 2016) von der ubiquitären Zerstörung der „Würde der Rede“ (Frühwald), der überall erlebbaren „Aufkündigung des Gesprächs“ und den zahlreichen „VerrohungVerrohungskampagnen“ (eines ihrer Beispiele: Innenminister de Maizières Satz, „man dürfe sich nicht von Kinderaugen erpressen lassen und müsse diese Bilder eben aushalten“), und sie erzählt folgendes: „Meine Irritation setzte im letzten Jahr auch oft genug beim bürgerlichen Kulturpublikum an. Was ist mit dem Publikum los? fragte ich mich da. Denn plötzlich pöbeln sie, und auch wenn man mir zum Beispiel in der Akademie der Künste sagte, sie haben da immer schon etwas gepöbelt, pöbeln sie jetzt anders, irgendwie lauter. Sie, die kulturinteressierten Bürger, unterbrechen die Leute, die zu hören sie ja gekommen waren. Sie sagen nicht immer zu einem iranischen Pianisten: ‚Reden Sie gefälligst deutsch, wenn Sie in Deutschland spielen!‘ – wie im März in der Kölner Philharmonie, als dieser sich in englischen Worten ans Publikum wandte –, aber oft muß man sie daran erinnern, daß eine Podiumsdiskussion erst mal etwas ist, wo Statements auf dem Podium ausgeführt werden, die dann in einem zweiten Schritt diskutiert werden. […] Für mich stellt gerade die vermeintliche Harmlosigkeit dieser zunehmenden Pöbeleien einen Indikator dar, einen Indikator für eine gewaltige Schieflage in der öffentlichen Kommunikation. Warum kündigen diese Leute die Veranstaltungskonventionen auf? Geht es ihnen um verstärkte Sichtbarkeit, wollen sie mehr gesehen und nicht übersehen werden?“
In der Cafeteria des geisteswissenschaftlichen Zweiges der Universität Frankfurt ist mir folgende Unterhaltung zu Ohren gekommen (die drei Frauen waren nicht zu überhören): „Diese Hartz-IV-Penner sollen das Maul halten.“ – „Es ist unglaublich, wie die sich aufführen.“ – „Die gehören in Zwangsarbeit gesteckt.“ Am nächsten Tag auf der Terrasse einer Speisegaststätte; zwei höhere Bahnangestellte, beide ungefähr Mitte dreißig; des einen Freundin ruft an; er: „Wieso bist du immer noch nicht da?! Dich mach’ ich rund, du Schlampe!“; und so weiter; nach dem Telephonat beginnt er gegenüber seinem Arbeitskollegen zu prahlen: „Wie ich die Alte heute fertiggemacht hab’, als es um den Posten 23 ging! Hat die losgeheult! Mann, war das geil!“
Folgenden Tags treffe ich einen Freund, der ebenfalls bei der Bahn beschäftigt ist. „So sind sie“, sagt er. „Heute kann sich jeder aufführen wie offene Hose.“ Das Niedermachen anderer sei üblich, sogenannte „Führungskurse“ brächten nichts. „Lustgewinn aus Demütigung, verstehst? Und nachher scheißfreundlich. Die Heuchelei ist Grundprinzip. Wie heißt’s? Anstand ist eine Zier, aber weiter kommt man ohne ihr.“
Die Folgen des vom Soziologen Wilhelm Heitmeyer in zahllosen empirischen Details beschriebenen „rabiaten Klassenkampfes von oben“, der vor Jahren angezettelt worden ist, sind allenthalben zu gewahren – bei den Auftritten der, mit Karl Kraus zu reden, „elektrisch beleuchteten Barbaren“ in Scripted-Reality-Shows und in den Schlangen im Supermarkt und auf der Post und in den Chefetagen und sonstwo.
Es scheine „mit der Angst vor dem Abstieg auch die Bereitschaft zu wachsen, sich im Verteilungskampf mit härteren Bandagen Vorteile zu verschaffen“, liest man auf der Website des WDR. Die Deregulierung des Sozialen ist weit vorangeschritten. Große Teile der Gesellschaft befinden sich im oder fürchten den „ständigen Abstiegskampf“ (ein winziger Teil organisiert ihn), sagt Oliver Nachtwey vom Frankfurter Institut für Sozialforschung (Spiegel Online, 14. August 2016). Der „gesteigerte Wettbewerb“ sei, erläutert er, „heute so schwer als solcher erkennbar, gerade weil er im Namen der Selbstentfaltung stattfindet“. Man denke etwa „an die sogenannten Helikoptereltern. Die sagen häufig, sie schicken ihr Kind schon mit vier Jahren zum Mandarinlernen, damit es gebildet ist. In Wirklichkeit wollen sie aber auch, daß es in Zukunft, wenn es noch viel härter wird da draußen, der Konkurrenz standhalten kann. Gerade in linken, liberalen Milieus findet sich diese Lebenslüge: Man ist ja immer für soziale Integration auf allen Ebenen – aber nicht mehr, wenn es um den eigenen Nachwuchs geht.“
Man ist geneigt, den „allgemeinen Kompetitionslärm“ (Joseph Vogl) soziolinguistisch auf den Begriff zu bringen. Bei Valentin Volosinov (Marxismus und Sprachwissenschaft – Grundlegende Probleme der soziologischen Methode in der Sprachwissenschaft, 1929) gilt das Wort (oder Wortzeichen), das „empfindsam die feinsten Veränderungen des gesellschaftlichen Seins“ wiedergibt, als multidimensionales, mehrfach gebrochenes „ideologisches Zeichen“. In ihm kollidieren die heterogenen Ziele und Weltansichten, es artikuliert „die Überschneidung unterschiedlich orientierter gesellschaftlicher Interessen innerhalb einer Zeichengemeinschaft“. Das Wort, eine Art Akzentuierungsagent der Konfrontation, der Text, die Rede, die „ideologische Kommunikation“ werden somit „zur Arena des Klassenkampfes“.
Für Brecht war Freundlichkeit eine politische Kategorie, eine erlernbare Haltung, und „wo Freundlichkeit nicht geübt werden kann, wegen der Härte der Klassenauseinandersetzungen, leben wir in finsteren Zeiten“ (Christian Semler).
Adorno notierte in den Minima Moralia, „daß in der repressiven Gesellschaft Freiheit und Unverschämtheit aufs gleiche hinauslaufen“ (§ 72). Und Richard Sennett hielt in Verfall und Ende des öffentlichen Lebens – Die Tyrannei der Intimität (Frankfurt/Main 1983) fest, Zivilisiertheit bedeute, daß man „nicht das eigene Selbst zu einer Last für andere macht“. – „Zivilisiertheit ist ein Verhalten, das die Menschen voreinander schützt und es ihnen zugleich ermöglicht, an der Gesellschaft anderer Gefallen zu finden.“
Mir scheint, davon sind wir weiter denn je entfernt.