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1. Höflichkeitskonstruktionen und kultureller Kontext
ОглавлениеHöflichkeit ist ein soziales Konstrukt zur Steuerung von menschlichen Interaktionen, das im Kern auf Variationen von Distanz oder Respekt beruht und sich in unterschiedlichen, u.a. auch sprachlichen Formen äußern kann (Cherubim 2011, 4ff.). Dabei stellt das Höflichkeitsverhalten, das sich notwendig kommunikativen Akten und deren Wahrnehmung und Interpretation bei den Beteiligten verdankt, eine „mittlere“ Stufe von Beziehungssteuerung zwischen den Interaktanten dar: zwischen Formen eines „kalten“, feindseligen oder aggressiven Verhaltens auf der einen Seite und Formen eines „warmen“, freundschaftlichen oder sogar liebevollen Verhaltens auf der anderen Seite, und es ist janusartig beiden Extremen zugewandt (vgl. Schema 1). Denn feindseliges Verhalten kann aus pragmatischen Gründen auf ein distanziertes Verhalten reduziert werden und aus Respekt kann sich mit der Zeit und bei entsprechenden Bedingungen ein freundschaftliches Verhältnis entwickeln, seltener auch wieder umgekehrt.
Schema 1
Was Höflichkeit ist oder als höfliches Verhalten verstanden wird, ist so nicht nur variabel und instabil, sondern auch sprach- und kulturabhängigkulturabhängig, wie man es sich schon am klassischen Beispiel der Anredepronomina verdeutlichen kann: In engen, relativ geschlossenen Gemeinschaften braucht man im allgemeinen keine unnötigen Komplikationen mit mehreren situationsspezifischen Alternativen oder setzt sie, falls doch vorhanden, gerne durch Zusatzregeln („Ab 2000 m Höhe / unter Wasser wird geduzt!“) außer Kraft. Entwickelte Gesellschaften mit ihren Differenzierungen und komplizierten Übergängen zwischen einzelnen Bereichen oder Sphären tendieren dagegen zur Ausprägung mehrerer Möglichkeiten, die in der Sozialisation von Kindern oder bei der Integration von Fremden erst mühsam erlernt werden müssen; und dies gilt vor allem, wenn sie mit anderen Möglichkeiten wie z.B. dem Gebrauch von Eigennamen gekoppelt sind. Im Deutschen ist etwa die Anrede mit dem VornamenVornamen meist mit dem Duzen verbunden, während das Siezen die Anrede mit dem Familiennamen (plus vorangestellten Titeln) verlangt; Ausnahmen davon sind aber in bestimmten Berufsfeldern (Kaufhaus) oder engeren Arbeitsgemeinschaften (auch in der Wissenschaft) möglich (Heringer 2009). Im Standardchinesischen gibt es hingegen nur eine Anredeform, die aber nicht mit dem Gebrauch des Vornamens verbunden werden darf; eine dem Siezen vergleichbare Form der Anrede ist (wie auch im Schwedischen) nur für wenige honorative Anreden reserviert (Liang 2009). Auch für das Englische gibt es bekanntlich nur die eine Möglichkeit des you, und selbst das in älteren Texten oder in religiösen Zusammenhängen noch verwendete thou fällt nicht aus diesem Rahmen, sodass soziale oder situative Differenzierungen auf andere formelle Techniken zurückgreifen müssen. Höflichkeitskonzepte sind also stets Antworten auf zivilisatorische Prozesse, die dann ihre eigene, durchaus ambivalente Kraft (z.B. Differenzierung, Identifikation und soziale Kontrolle) entfalten können. Selbst der deutsche Ausdruck Höflichkeit zeigt noch diese historische Relativität, insofern die Kultivierung des guten Geschmacks bzw. der „feinen“ Unterschiede durchaus mit der Institution der Höfe bzw. der höfischen Gesellschafthöfischen Gesellschaft in der Frühen Neuzeit zu tun hatte.1
Der konstruktive Charakter von Höflichkeit ergibt sich daraus, dass entsprechende Verhaltensweisen eben nicht absolut, sondern erst im Zusammenhang oder als Ergebnis interaktiver Akte als mehr oder weniger höflich, nicht-höflich oder sogar als unhöflich bestimmt werden können und dass sie eine Verarbeitung unterschiedlicher Faktoren voraussetzen: vor allem von Intentionen, die dabei verfolgt werden, von Höflichkeitsregeln, die in verschiedener Form (z.B. durch kommunikative Praxis oder Regelbücher) vermittelt werden, und von Situationseinschätzungen, die selbst wieder komplexer Natur sind (Bayer 1977). Dabei wird oft davon ausgegangen, dass der Gebrauch von höflichen Verhaltensweisen eine Art SymmetrieSymmetrie, d.h. den Bezug auf gleiche oder wenigstens vergleichbare Höflichkeitskonzepte beinhalte, sodass Höflichkeit und Unhöflichkeit den gleichen Maßstäben unterliegen. Dies ist aber eine kontrafaktische Annahme, die nicht der vielseitigen Realität des Höflichkeitsmanagements in kommunikativen Zusammenhängen und damit auch nicht unseren Erfahrungen damit entspricht.