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III.

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Obgleich Hippias nach dem Attentat, dem sein Bruder Hipparch zum Opfer gefallen war, an der Macht blieb und erst vier Jahre nach dem Anschlag aus Athen vertrieben werden konnte, galten schon während der Perserkriege Harmodios und Aristogeiton als die Befreier Athens. Ihnen wurden die ersten Standbilder überhaupt errichtet, die in Athen an die Taten von Menschen und nicht von Göttern erinnerten. Sie erhielten gemeinsam mit den Gefallenen der Perserkriege ein alljährliches Totenopfer. Die Mitglieder ihrer Familien wurden privilegiert. Wie weit die Fürsorge für die Familie der Gephyräer ging, erzählt Plutarch in seiner Vita des Aristeides: Als das Volk von Athen erfuhr, »daß eine Enkelin des Aristogeiton in Lemnos sehr dürftig lebte und wegen ihrer Armut keinen Mann bekommen konnte, ließ es sie nach Athen kommen, verheiratete sie mit einem Mann von guter Abkunft und gab ihr das Gut in Potamos als Aussteuer«.84

Obwohl Herodot und Thukydides betonen, dass Harmodios und Aristogeiton Athen nicht befreit, sondern aus privaten Gründen einen der Tyrannen ermordet hatten, hat keiner der späteren attischen Redner Kritik an der Legende geübt. Vielmehr bezeichnete etwa Demosthenes die Tyrannenmörder als die größten Wohltäter Athens.85 Es war verboten, Sklaven mit ihren Namen zu benennen,86 so wie es auch untersagt war, irgendwelche spöttischen Äußerungen über Harmodios und Aristogeiton zu machen.87

Aus der Tat der Tyrannenmörder wurde die Gründungslegende des athenischen Staates.88 Zu dieser Legendenbildung kam es, weil sich die Athener nach 510 nicht daran erinnern wollten, dass die Vertreibung der Peisistratiden weniger ihr eigenes Verdienst als das der Spartaner gewesen war. Und Sparta selbst muss durch seinen Versuch, in Athen eine Oligarchie zu installieren bzw. später Hippias zurückzuführen, zu diesem Erinnerungsverlust beigetragen haben. Zur Selbstvergewisserung gegen die Bedrohungen von außen hat man in Athen das Loblied von Harmodios und Aristogeiton, von ihrem Attentat auf den Tyrannen und ihrer angeblichen Befreiung der Stadt gesungen.89

Ein Ausdruck dieser Staatslegende war auch das Standbild der Tyrannenmörder, von dem sich nicht nur die Aristokraten, sondern auch alle übrigen Athener in ihrer Eigenschaft als Bürger angesprochen fühlen konnten. Denn dieses Standbild konnte seine Betrachter, wie Burckhardt Fehr dargelegt hat, je nach ihren eigenen Voraussetzungen sowohl an die aristokratische Ethik als auch an die bürgerlichen Tugenden erinnern, an die Disziplin, die sich im Kampf der Hoplitenphalanx bewähren musste, oder an die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz.90

Während wir über die Gestaltung des ersten, von Antenor geschaffenen Standbildes nichts Genaues wissen, wurde eine römische Kopie der zweiten, nach 480 von Kritios und Nesiotes hergestellten Gruppe 1859 in Neapel von Carl Friedrichs identifiziert. Seitdem ist es möglich, Darstellungen von Harmodios und Aristogeiton auf antiken Vasen zu erkennen und vor diesem Hintergrund zu diskutieren, wie die zweite Gruppe ursprünglich ausgesehen haben muss.91

Aufschlussreich ist der Aufstellungsort der Statuen. Als Verkörperung des neuen athenischen Selbstbewusstseins standen die Statuen des Harmodios und Aristogeiton auf der Agora, auf dem Platz, der unter den Peisistratiden zum Mittelpunkt des Staates Athen geworden war. Die Agora war der Schauplatz des Attentats auf Hipparch gewesen und wurde im 5. Jahrhundert zu dem Ort, an dem die Athener zusammenkamen, um jeder neuen Tyrannis vorzubeugen. Wahrscheinlich in der unmittelbaren Nähe der Statuengruppe wurde das Scherbengericht, der Ostrakismos, durchgeführt. Wer immer von den Athenern in Verdacht geriet, eine Tyrannis errichten zu wollen, musste für zehn Jahre die Stadt verlassen, wenn 6000 oder mehr Stimmen gegen ihn zusammenkamen. Gerade für ein solches auf den Erhalt der Demokratie ausgerichtetes Verfahren konnte es kein geeigneteres »Bildprogramm« geben als die Statuen der Tyrannenmörder.92

Wie bedeutsam den Athenern diese Statuengruppe war, lässt sich daran ablesen, dass in ihrem Umfeld keine anderen Statuen aufgestellt werden durften.93 Dieses Verbot wurde nur zweimal außer Kraft gesetzt. Zunächst, nachdem in den Kämpfen, die auf den Tod Alexanders des Großen folgten, Demetrios Poliorketes Athen der Herrschaft des Kassander bzw. seines Statthalters Demetrios von Phaleron entrissen hatte. Im Jahr 307 wurde ein Kult für Demetrios Poliorketes und seinen Vater Antigonos Monophtalmos als den Befreiern und Rettern Athens eingerichtet; sie erhielten goldene Standbilder, die auf der Agora nahe bei Harmodios und Aristogeiton aufgestellt wurden.94 Drei Jahrhunderte später erwiesen die Athener diese Ehre dann Cassius und Brutus. Auch sie sollten Statuen im Umfeld der Tyrannenmördergruppe erhalten.95 Nach dem Tod Cäsars versuchten die Athener, sich auf die richtige Seite zu stellen. Um Cassius und Brutus auszuzeichnen, haben sie die Heroen ihrer Geschichte ins Spiel gebracht – Harmodios und Aristogeiton, die Athen von der Tyrannis befreit haben sollten. Ein Fragment der Inschrift von der Basis der Brutus-Statue ist 1936 gefunden worden und belegt, dass die Zeit zwischen der Ankunft des Brutus in Griechenland im August 44 v. Chr. und den Niederlagen der Cäsarmörder bei Philippi im Oktober und November 42 v. Chr. ausgereicht hat, den Beschluss auch auszuführen.96

Später erst konnte man wissen, dass Cassius und Brutus mit ihrem Attentat letztlich erfolglos bleiben sollten, dass sie zwar Cäsar ermorden, aber die Monarchie in Rom nicht verhindern konnten. Bis zum Anschlag auf Cäsar waren Harmodios und Aristogeiton, wie Cicero schreibt, auch in Rom »in aller Munde«.97 Dann aber wurde die Tat von Cassius und Brutus zu dem Attentat der Antike, auf das man in Zukunft Bezug nahm, um das Problem von Tyrannenherrschaft und Tyrannenmord zu diskutieren. In diesem Zusammenhang wurden dann Harmodios und Aristogeiton nur noch selten erwähnt. So etwa von Etienne de la Boétie, der in seinem um 1550 geschriebenen »Discours de la servitude volontaire« (»Von der freiwilligen Sklaverei«) den Lesern Mut zur Freiheit machen wollte und an die erfolgreichen Tyrannenmörder der Antike erinnerte, an Harmodios und Aristogeiton, Thrasybulos und den älteren Brutus, an Valerius und Dion und schließlich an Cassius und den jüngeren Brutus.

Dass Cassius und Brutus in der Dichtung wie in der politischen Literatur weit häufiger begegnen als Harmodios und Aristogeiton, liegt in der größeren historischen Bedeutung ihres Opfers begründet und in der Erfolglosigkeit ihrer Tat. Weil trotz ihres Attentats in Rom an die Stelle der Republik die Monarchie trat, wurde ihnen ein zwiespältiger Nachruhm zuteil. Denn sie hatten mit Cäsar den Begründer der Monarchie umgebracht, im Rückblick also eine göttergegebene oder, nachdem das Römische Kaisertum christlich geworden war, gottgegebene Herrschaft infrage gestellt. Deshalb verurteilte Dante sie zum Aufenthalt in der Hölle, während Saint Just kein besseres Vorbild kannte, um Ludwig XVI. unter die Guillotine zu bringen. Harmodios und Aristogeiton dagegen waren letztlich zweifach erfolgreich gewesen. Zwar hatten sie die Tyrannis in Athen nicht gestürzt. Trotzdem schrieb man ihnen diese Tat zu und machte sie zu den Gründungsheroen der attischen Demokratie. Und auch ihr eigentliches Ziel, für das sie bereit waren, ihr Leben einzusetzen, das Ziel, sich an Hipparch zu rächen, hatten sie erreicht.

Das Attentat in der Geschichte

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