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3.1 Was heißt „Natur“ in der Chemie?
ОглавлениеErstens gilt das „Chemische“ per se für Viele als das Nichtnatürliche, insbesondere, wenn man ein ökologisch-holistisches Paradigma vertritt, in dem das Natürliche doch sehr stark normativ positiv ausgeladen ist. Die folgende, von Schummer erzählte Geschichte,33 soll das illustrieren:
Gott war sehr erzürnt als er davon erfuhr, dass Semsaja, sagen wir eine Revolte unter den Engeln anzettelte, die dazu führte, dass sich eine Schar gefallener Engel mit Frauen auf der Erde vergnügte. Der im apokryphen 1. Buch Henoch des Alten Testaments genannte Asasel zog besonderen Zorn Gottes auf sich, weil er Geheimnisverrat betrieben hatte. Er lehrte Frauen frühe chemische Praktiken wie Färbetechniken, metallurgische Praktiken, Schminkkunst und die Bearbeitung von Edelsteinen. Alchemie griff in die göttliche Schöpfung auf diese und andere Weise ein. Von daher nimmt es nicht Wunder, wenn sehr viel später Boyle Natur nicht als die wohlgeordnete Schöpfung bezeichnet, die Menschen vorfinden. Doch diese Naturnachahmung der Alchemisten war eine Nachahmung, die Natur als bloß statisch, letztlich als ein für alle Mal festgelegt betrachtete. Lange wurde auch in der Chemie eine bestimmte Zweckhaftigkeit von Natur angenommen, die man beginnend mit Praktiken der Alchemie annehmen kann.
Die folgenden Sichtweisen auf Natur, die wir etwa in der pharmazeutischen Chemie, insbesondere in der Arzneimittelforschung, finden, spiegeln ein komplexes Geflecht von Naturkonzepten wieder:
Molekulares Design von pharmazeutisch aktiven Substanzen geht aus von der Möglichkeit einer zielgerichteten Modellierung, d.h. sowohl im Labor hergestellte Substanzen mit bestimmten Funktionen als auch computersimulierte Funktionen spielen beim Moleküldesign eine wichtige Rolle. „Natur“ wird in sieben Dimensionen verstanden, d.h. Chemie hat jeweils verschiedene Verhältnisse zur Natur34:
1. Natur wird beschrieben (mögliche Funktionen von pharmazeutisch aktiven Substanzen)
2. Natur wird reproduziert: Entweder a) indem Stoffe aus der Natur extrahiert werden, etwa aus Pflanzen, Tieren oder aus Gestein oder b) diese Stoffe synthetisiert werden (als sozusagen künstliche Produkte)
3. Lernen aus der Natur (durch Isolation von Stoffen, etwa aus Pflanzenextrakten)
4. Imitieren der Natur (durch Totalsynthese eines Stoffes, den man in Pflanzenextrakten findet)
5. Verbesserung der Natur im Sinne einer Optimierung (Isolation und Modifizierung einer Substanz, die man extrahiert hat)
6. Konkurrenz zur Natur durch Totalsynthese, die nicht von natürlichen Extrakten ausgeht, sondern vollständig auf nicht-natürliche Ausgangsstoffe zurückgreift
7. Kontrolle der Natur (etwa: Biosynthese durch genmanipulierte Bakterien)
Wieder könnte man aus der Tatsache, dass sich Naturwissenschaftler in bestimmter Absicht mit Aspekten von Natur befassen, daraus schließen, dass alles Natur ist. Wer immer das meint, sollte eine Theorie der Natur für ein naturalistisches Desiderat halten, weil die jetzige Verwendung von Natur entweder sinnentstellt, leer oder schlicht falsch sein kann. Sinnentstellend ist es etwa, in gleichem Atemzug von organismischer Evolution unserer Art zu sprechen und von der Evolution unserer Erkenntnisfähigkeit. Da sind sicherlich verschiedene Aspekte oder Arten von Natur beteiligt, um es vorsichtig zu sagen. Natur wird zu einer Leerformel, wenn sie alles einschließt und nichts ausschließt. Wie nahe ist eine solche Formel an einer panthistischen Formel? Sehr nahe und das kann doch kein Naturalist wollen, oder? Irreführend ist die naturalistische Auffassung, Bereiche als Natur einzugemeinden, die eher kultürlich erklärbar sind, nehmen wir etwa unsere ästhetischen Präferenzen oder Leistungen.