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1. Wissenschaft und Metaphysik: Begriffliche Klärungen
ОглавлениеWas immer genau Naturwissenschaften sind, sie sind Wissenschaften. Wie lässt sich Wissenschaft charakterisieren? „Wissenschaft ist dann gegeben, wenn Wissen über Sachverhalte erstrebt und formuliert werden, das nicht unmittelbar an Problemen der Bewältigung des Alltagslebens orientiert ist.“5 Etwas umfangreicher ist der Versuch von Holm Tetens zu erklären, was „Wissenschaft“ meint:
„Wissenschaft ist der gesellschaftlich-politisch organisierte und nur kollektiv realisierbare Versuch, systematisch und methodisch zu erkunden (erforschen), was alles in der Welt der Fall ist [Kursivierung TS], und warum es der Fall ist. Einige Wissenschaften antworten teilweise auch auf die normative Frage, was der Fall sein soll.“6
Daran schließt sich die Vorstellung an, dass Wissenschaft „regulative Ideale“ beinhaltet, nämlich Wahrheit, Erklären und Verstehen, Begründen und Intersubjektivität. Je nach Gewichtung dieser Ideale, die als handfeste Kriterien der Wissenschaftlichkeit formuliert werden, ergibt sich mehr oder weniger Konfliktpotential zwischen Wissenschaften untereinander, aber auch zwischen Wissenschaft und Religion, u.a. wegen des „was alles in der Welt der Fall ist“. Zu sagen, was Welt ist oder was Natur ist, führt direkt zur Metaphysik, weil die Reflexion auf Abgrenzungsverhältnisse – Natur-Übernatur, Natur-Kultur, Natur-Geist, natürlich-künstlich etc. – notwendig unsere Erfahrungen mit Welt überschreitet. Das, was gemeinhin – gerade in einer oft eher ahistorisch verfahrenden Wissenschaftstheorie – mit „Wissenschaft“ bezeichnet wird, ist kein überzeitlicher, sondern ein historisch gewachsener Begriff, der vielen Transformationsprozessen unterworfen war und unterworfen ist. Im Anschluss an Ziche und van Driel7 ist festzustellen, dass ein Begriff von „Wissenschaft“ im Singular, zumal er sich oft als Art Qualitätssiegel versteht,
„problematischer [ist] als das plurale Konzept der Wissenschaften: ‚Wissenschaft‘ entsteht im Ausgang von den Wissenschaften und wird stets bestimmt in Bezug auf die vielen als wissenschaftlich zu kennzeichnenden Aktivitäten. Sichtbar wird dies in den typischen Charakterisierungen des Wissenschaftsbegriffs im 17. und 18. Jahrhundert. ‚Wissenschaft‘ wurde hier bezeichnenderweise in der Form offener Listen von Aktivitäten und Resultaten umschrieben, die mit dem Wissenschaftsbegriff in Verbindung gebracht werden konnten.“8
Wer den Begriff also enthistorisiert, der wird evtl. eine vermeintlich überzeitliche Charakterisierung dessen, was schlechthin als „Wissenschaft“ zu gelten hat, finden, allerdings muss er einen hohen Preis zahlen: Weder lässt sich dann über historische, soziale oder allgemein soziokulturelle Rahmenbedingungen und Bedingungen des Gelingens von Wissenschaften sprechen noch erklären, welche Faktoren dazu führen, dass es mehr oder weniger angesehene, „harte“ und erfolgreiche Wissenschaften – gemessen etwa am Kriterium der Erklärungstiefe oder am Grad der Mathematisierbarkeit – gegeben hat und gibt. Da das Thema des Symposiums, aus dem dieser Beitrag hervorgegangen ist, Denkvoraussetzungen in verschiedenen Wissenschaften thematisiert hat, lohnt ein etwas genauerer Blick auf Wissenschaftsbegriffe bzw. auf wichtige Abgrenzungen von „Wissenschaft“ und verwandten Begriffen. Die erste Zeitschrift, die den Wissenschaften im modernen Sinn gewidmet ist, sind die „Philosophical Transactions“ (erster Band 1665/66).9 Zwar taucht der Begriff „Wissenschaft“ nicht im Titel der Zeitschrift auf, ihre Wissenschaftsnähe wird aber in ihrer Agenda deutlich. Der Anspruch ist, diejenigen zu unterstützen, die sich dem Fortschritt des Lernens und dem Wissenserwerb verschrieben haben sowie das große Projekt der frühen Neuzeit, die „Suche nach profitablen, i.e. nützliche Entdeckungen“, unterstützen.
Eine Abgrenzung von „Künsten“ und Wissenschaften finden wir seit dem 18. Jahrhundert in allen europäischen Sprachen.10 Künste meint hier zunächst, dass Wissenschaften abzugrenzen sind von den kunstfertigen Handlungen derer, die etwa Instrumente herstellen und erproben und die eher dem zuzurechnen sind, was man heute Handwerk nennt.
Die Stellung der Chemie innerhalb der Naturwissenschaften kann, wenn wir Scerri und McIntyre folgen wollen, zur Frage überleiten, welche metaphysischen Fragen in der Chemie eine besondere Rolle spielen.
“Given the unique placement of chemistry [Kursivierung im Original; TS] between physics and biology in the traditional hierarchy of the natural sciences, however, isn’t it reasonable to assume that chemistry may yield a set of issues worthy of increased philosophical attention? Indeed, one might point out that chemistry has traditionally been, and continues to be, the science concerned with the nature of the elements, of substance and indeed of the nature of matter, again all traditional philosophical questions. [Kursivierung TS] We should not be too misled by the fact that the study of matter, during the twentieth century, seems to have slipped out of the hands of chemists and into those of theoretical physicists. Falling into such a trap would be doubly erroneous, since physics has only usurped chemistry when it comes to the micro-structure of matter and secondly because it would be question begging over the issue of the reduction of chemistry, which we claim is the one of the main areas in which philosophical interest in chemistry should be directed”.11
Zur traditionellen Hierarchie, von der im Zitat die Rede ist, sei gesagt: Wenn man die Gegenstände der klassischen Naturwissenschaften zugrunde legt und eine Art Schichtenbau der Wirklichkeit annimmt, dann nimmt Chemie eine Mittelstellung zwischen Physik und Biologie insofern ein, als Physik – etwa in der klassischen Mechanik – etwa nicht mit konkreter Materie befasst ist, sondern von fast allen Eigenschaften von Materie abstrahiert, während Chemie klassisch Materie als Stoffe versteht, die mit einander reagieren – oder eben auch nicht. Das Verhalten biologischer Systeme, klassisch gedacht als lebende Systeme oder Teile von lebenden Systemen, ist ohne ein Verständnis chemischer Prozesse auf der Ebene von Zellen oder von denjenigen Strukturen, die charakteristisch für lebende Systeme sind – etwa DNA –, nicht erklärbar. Doch ist allein wegen der Komplexität der meisten biologischen Systeme der Erklärungsanspruch einer biologischen Theorie gerade nicht, alle chemischen Reaktionen in einem biologischen System zu beschreiben, sondern etwa Populationsschwankungen vorherzusagen oder über andere biologische Probleme etwas herauszufinden. Da Physik, Chemie und Biologie unterschiedliche Gegenstände untersuchen und da diese Gegenstände deutlich andere Eigenschaften haben, ist klar dass die metaphysischen Hintergrundannahmen dieser Wissenschaften unterschiedlich sein müssen.
Zur Metaphysik: Die Metaphysikignoranz oder Metaphysikabstinenz oder die Metaphysikfeindlichkeit einiger Naturwissenschaftler ist wenig verwunderlich. Im Tagesgeschäft kann der präparativ arbeitende Chemiker die Frage ignorieren, ob denn die Agenzien wirklich existieren, ob die Reaktionsgeschwindigkeiten wirklich den Naturgesetzen unterliegen, die gelten etc. Oder einfacher: Er oder sie unterstellt, für das Tagesgeschäft, sozusagen einen robusten wissenschaftlichen Realismus. Ich habe eine Etherverpuffung aus nächster Nähe erlebt und keine Zweifel gehabt, dass wirklicher Ether wirklich verpufft ist. Chemiker können Partialignoranten sein, weil sie sonst nicht weiter kommen. Ein Chemiker kann sich auch der Metaphysik enthalten, weil er über seinen wissenschaftlichen Realismus nicht weiter nachzudenken braucht. Er kann auch explizit äußern, dass es der Metaphysik nicht bedarf. Dann muss er behaupten, dass er eben rein empirisch tätig ist oder jedenfalls theoretisch auf einem Niveau, das nicht nach grundlegenden Prinzipien fragt, also etwa danach, was grundsätzlich erfahrungstranszendent ist und was nicht auf letzte Prinzipien aus ist, Wesensfragen ausklammert, das Sein des Seienden für unverständliches Gerede hält usw.
Also, was soll metaphysisch heißen? Es gibt zwei grundsätzliche Verwendungsweisen von Metaphysik: Erstens stellt Metaphysik Fragen nach der Existenz oder danach, was das Seiende ist. Zweitens fragt Metaphysik, welche Typen von Dingen oder besser: Entitäten überhaupt existieren.
“Metaphysics is a broad area of philosophy marked out by two types of inquiry. The first aims to be the most general investigation possible into the nature of reality [Kursivierung TS]: are there principles applying to everything that is real, to all that is? – if we abstract from the particular nature of existing things that which distinguishes them from each other, what can we know about them merely in virtue of the fact that they exist? The second type of inquiry seeks to uncover what is ultimately real, [Kursivierung TS] frequently offering answers in sharp contrast to our everyday experience of the world. Understood in terms of these two questions, metaphysics is very closely related to ontology, which is usually taken to involve both ‘what is existence (being)?’ and ‘what (fundamentally distinct) types of thing exist?’ […]”12
Die Fragen danach, welche Entitäten in welcher Art und Weise existieren, ist natürlich zentral wichtig für unser Thema, denn Naturwissenschaftler versuchen zu ergründen, welche Naturgesetze gelten, welche Dinge bzw. Objekte es gibt, welche Reaktionsmechanismen nukleophiler Substitution es gibt etc. Eine erste stillschweigende Voraussetzung ihres Tuns ist, dass wir etwas über die Natur der Realität erfahren, die wenigstens teilweise in den Begriffen der wissenschaftlichen Beschreibung enthalten ist.
Bevor weiter unten verschiedene Typen von Metaphysik genannt werden, reicht es für unsere Zwecke festzuhalten, dass es eine Metaphysik der Voraussetzungen von Naturwissenschaften gibt, in der es um den metaphysischen Gehalt wissenschaftlicher Operationen geht oder um deren Resultate. Ferner geht es um die zugrunde gelegten metaphysischen Hintergrundannahmen, etwa um das, was wissenschaftlicher Realismus genannt wird. Weitere metaphysische Fragen, die im Zusammenhang mit Denkvoraussetzungen von Wissenschaften eine Rolle spielen, sind:
– Was ist das Seiende? Was ist Substanz? Wie viele Substanzen gibt es?
– Was ist Form? Was zeichnet die Form aus? Wie sollen wir uns das Verhältnis von Substanz und Form vorstellen?
– Was sind (die) Kategorien? Klassifizierungen von Prädikattypen: Was ist etwas, welche Eigenschaften hat es, wo ist es, wie viele sind es etc.?
– Was sind Ursachen? Wie viele Ursachen gibt es? Was sind die Prinzipien des Seienden?
– Welche Wesenheiten sind vergänglich und welche sind ewig?
– Welchen Sinn hat Sein?
– Was heißt Wirklichkeit, Aktualität, Potentialität?
Philosophisch prominent ist die Rede von Metaphysik als Erster Wissenschaft. Doch das ist nur eine Sichtweise auf das, was Metaphysik – hier bei Aristoteles; s. Tab.1, 1–3 – heißt.
Bezeichnung „Metaphysik“ | Gegenstand der Metaphysik | |
1 | Weisheit | Erste Ursachen und Gründe |
2 | Erste Philosophie | Das Seiende als Seiendes |
3 | Erforschung der Wahrheit | Die wahrnehmbare, veränderliche Substanz |
4 | Theologie (nicht bei Aristoteles) | Die unveränderliche, göttliche Substanz |
Tabelle 1: Bedeutungskomponenten von „Metaphysik“
Je nach Blickwinkel der Interpretation ist Metaphysik der Nachweis erster Ursachen und Gründe – als Weisheitslehre – oder erste Philosophie – als Betrachtung des Seienden als Seiendes. Drittens ist Metaphysik die Erforschung der Wahrheit (zentrale Aufgabe der Wissenschaft). Als innerweltliche Wahrheitssuche zielt Metaphysik auf die Erkenntnis der wahrnehmbaren, veränderlichen Substanz. Als Theologie – dieser Ausdruck stammt nicht von Aristoteles – ist Metaphysik das Fragen nach der unveränderlichen, göttlichen Substanz.
Aber was hat das mit den Naturwissenschaften zu tun? Wir unterstellen ein Erkenntnisinteresse grundsätzlicher Art, z.B. die Legitimität von Fragen im Zusammenhang mit Theoriebildung, die den Anspruch erhebt, natürliche Systeme zu beschreiben, zu erklären und vorherzusagen. Weiterhin gehen wir davon aus, dass Theorien irgendeinen Bezug zur Welt haben bei gleichzeitigem Wissen, dass wir keinen direkten epistemischen Kontakt zur Welt haben, dass Messungen durch Messinstrumente beeinflusst werden, dass wir evtl. keine objektiven Erkenntnisse gewinnen können etc.
Im Abschnitt 2 stellen wir eine metaphysische Sichtweise bezogen auf Konzepte von Natur dar, die unter Chemikern mehr oder weniger virulent sind.