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2. Metaphysische Hintergrundannahmen mit Blick auf den Elementbegriff in der Chemie
ОглавлениеWarum spielen ontologische Fragen in der Chemie eine große Rolle? In Anlehnung an Joachim Schummer könnte man sagen:
„Die Chemie ist im Unterschied etwa zur Physik (auch) eine klassifikatorische Wissenschaft, und damit drängen sich ontologische Fragen auf wie: Was sind chemische Entitäten, Spezies und Stoffklassen, welche Begriffe von Ähnlichkeit, Klassenzugehörigkeit und -unterscheidung und welche Klassenhierarchien liegen der chemischen Klassifikation zugrunde? Obwohl diese Fragen bisher kaum verstanden sind, verändern Chemiker gegenwärtig ihre Klassifikationsstrukturen mit kaum vorhersehbaren Folgen: Während die klassische chemische Klassifikation auf einer strikten Korrespondenz zwischen Reinstoffen und Molekülen beruht, werden neuerdings auch quasimolekulare Spezies in die Klassifikation aufgenommen, wie z.B. Molekülfragmente aus der Massenspektroskopie, Molekülzustände in Argonmatrix sowie zunehmend molekulare Reaktionszwischenzustände oder Konformere, die in Mischungen zwar spektroskopisch charakterisierbar, aber daraus nicht weiter isolierbar sind. Das würde eigentlich eine grundlegende Reform des gesamten chemischen Begriffsapparats erforderlich machen. Aus wie vielen chemischen Spezies besteht beispielsweise reines Wasser? Wie lässt sich damit eine chemische Reaktion von Wasser beschreiben – im Unterschied etwa zum Wechsel des Aggregatzustandes?“13
Es sei daran erinnert, dass Aristoteles eine erste fundierte Methode der Klassifikation ausgearbeitet hat, in der zentral eine möglichst genaue Definition eines Gegenstandes – etwa als zugehörig zu einer Klasse – ist. Wenn wir etwa das Kriterium der Ähnlichkeit in Augenschein heranziehen, dann stellen sich Fragen danach, welche Ähnlichkeiten homologe Elemente haben, etwa die Erdalkalimetalle (Elemente der 2. Hauptgruppe: Beryllium, Magnesium, Calcium, Strontium, Barium und Radium). Trotz vieler Gemeinsamkeiten – alle sind Leichtmetalle, weich und leicht verformbar – ist Beryllium spröde, hart und hat einen deutlich höheren Schmelz- und Siedepunkt als die anderen Erdalkalimetalle. Die betrachtete Ähnlichkeit ist also kein geeignetes Vorhersageinstrument und es ist für jede chemische Theorie eine ungelöste Herausforderung, warum gerade Beryllium diesen hohen Schmelz- und Siedepunkt hat.
Was nun ein chemisches Element ist, stellt in der Regel kein großes chemisches Problem dar. Schließlich gibt es das Periodensystem der chemischen Elemente, die Elemente können mehr oder weniger gut rein isoliert14 werden, ihre chemischen und physikalischen Eigenschaften sind zumeist sehr gut bekannt. Zwei philosophische Interpretationen, die ausgehend von einem Elementbegriff ontologische Fragestellungen beantworten, sind:
– Chemie kann als die Wissenschaft von der Transformation von Substanzen15 verstanden werden. Substanzen können aufgrund makroskopischer Eigenschaften definiert werden. Sie sind nicht reduktionistisch16 oder essenzialistisch zu definieren.
– Für die Zwecke einer Metaphysik, die zwischen „einfachem Stoff“ und „Grundstoff“ im Sinne Paneths17 unterscheidet, gehen wir von folgender Unterscheidung aus: Einfache Stoffe sind solche, die nur aus einem chemischen Element bestehen. Chlor (Cl2) ist unter Normalbedingungen ein grünes Gas mit stechendem Geruch. Das Element Chlor als Grundstoff hat keine wahrnehmbaren Eigenschaften wie Farbe oder Geruch. Scerri18 leitet daraus ab, dass das Konzept des Elements in naiv-realistischer Weise verstanden werden muss, wenn ein einfacher Stoff gemeint ist, aber als erfahrungstranszendent, wenn damit „Grundstoff“ gemeint ist. Ein einfacher Stoff zeigt in Form einer Stoffprobe bestimmte physikalisch-chemische Eigenschaften, ein Grundstoff nicht.
Eine These, die sich daran anschließt, lautet: „Chemie hat es nicht mit Materie per se tu tun. In der Chemie geht es um den Umgang mit individuellen Substanzen nicht im Sinne von Substraten, sondern die Wandlung von Stoffen ist in den Blick zu nehmen. Statt Wandlung kann man auch von chemischer Reaktivität und weiteren chemischen Eigenschaften der Stoffe sprechen. Außerdem geht es Chemikern darum, die Relationen von Stoffen zu verstehen und Sie als Agenzien, als Agenten, als Handelnde zu verstehen.“
Die These lässt sich weiter ausdifferenzieren in drei Teile. Alle drei Teile tragen dazu bei, dass Chemie einen eher distanzierten bzw. flexiblen Umgang mit ontologischen Fragen mindestens im Zeitraum ihrer Entstehung, also im späten 17. Jahrhundert und auch noch danach hatte. Wenn man den Denkstil in der Chemie verstehen möchte, dann sind die folgenden Eigenarten unverzichtbar (siehe z.B. Hacking und Bensaude-Vincent19):
– Auch die scheinbar abstraktesten und einfachsten Konstituenten der Materialien und Stoffe, mit denen Chemiker zu tun hatten, haben Auswirkungen auf deren phänomenal-beobachtetes Verhalten. Das individuelle Verhalten der jeweils miteinander reagierenden Substanzen spielt eine immense Rolle.
– Das Denken in Relationen zwischen den Substanzen war einflussreicher als ein Substanzialismus. Vergegenwärtigen wir uns, dass etwa Robert Boyle (1627–1691) Aristoteles auch wegen dessen Annahme, einer Substanz liege ein unveränderliches Substrat zugrunde – Stichwort: Vier-Elemente-Lehre –, kritisiert hatte.
– Schließlich ist es ein Merkmal einer Denkweise der Chemie, dass Stoffe, die in chemischen Experimenten verwendet werden, Agentien sind. Warum ist das wichtig? Wie auch immer eine Theorie der Materie aussieht, ob es Korpuskel gibt oder Atome oder Elemente etc., die chemische Operationalisierbarkeit, die Sicht auf die Angemessenheit der Instrumente und Apparaturen steht im Vordergrund, weil es in der Chemie weniger um eine letzte Grundlegung dessen geht, was real ist, sondern um das Verständnis der chemischen Prozesse, durch die sich Realität/Natur verändert.20 Wir kommen im 4. Abschnitt darauf noch zu sprechen.
Aber Boyle ist doch völlig veraltet? Ja, die Chemie ist sehr weit fortgeschritten, aber die eben skizzierten Thesen bleiben bedenkenswert, z.B. wenn wir die Frage, ob alle Naturwissenschaften nach Wahrheit streben, stellen. Der Physik wurde und wird das nachgesagt, weil bestimmte Bereiche der Physik danach fragen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Chemiker sind bereits zufrieden, wenn die Synthese eines neuen Stoffs mit zufriedenstellender Ausbeute gelungen ist. Diese im Vergleich zur Physik geringere Metaphysikbedürftigkeit der Chemie spielt eine Rolle bei Betrachtungen, welche Reichweite ontologische Theorien haben. Es ist sicher kein Zufall, dass vereinheitlichende Theorien in der Physik beheimatet sind, nicht aber in der Chemie.