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4. Unmögliche Stoffe

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Zu den besonderen Erkenntnisgrundlagen der Chemie gehört also die Auseinandersetzung mit der Welt der Stoffe, die sich diese Disziplin gleichzeitig schafft und aneignet. Davon soll hier noch mit zwei Beispielen die Rede sein, die sich auf mögliche und unmögliche Stoffe beziehen, also auf Einschränkungen im „Chemical space“, den man als die Gesamtheit aller Stoffe und ihrer Transformationen ineinander begreifen kann, und der prinzipiell unendlich ist.

Die erste Geschichte bezieht sich auf die Grundlagenforschung und auf ein schmales Buch von W. E. Dasent aus dem Jahr 1965. Es trägt den mutigen Titel „Nonexistent compounds“ und führt, eher als didaktische Übung, eine Reihe von Stoffen auf, die eigentlich nach der chemischen Intuition bzw. aufgrund von Induktion und Analogie existieren sollten, die aber aus von Dasent dargelegten Gründen nicht zugänglich sind.19 Auch Nichtchemikern kann man das schnell verdeutlichen: zu den in einer Gruppe des Periodensystems stehenden und sich deshalb ähnlich verhaltenden Halogenen Chlor, Brom und Iod gehören Sauerstoffspezies, die bei vier zugehörigen Sauerstoffatomen die Vorsilbe Per erhalten: es gibt demnach ein Perchlorat-Ion und ein Periodat-Ion, aber merkwürdigerweise wurde das Perbromat-Ion bis dahin nie beobachtet, obwohl es genau dazwischen steht und man es auch auf dem Papier leicht und ohne Verletzung chemischer Regeln formulieren kann. Dieses schmale Buch mit seinen Beispielen wurde von einer ganzen Generation von Chemikern, zu denen auch mein Doktorvater gehört, quasi als Forschungsplan verwendet, eine Reihe der „Nonexistent Compounds“ gibt es inzwischen eben doch, so auch das Perbromat. Bei einer so gründlichen Falsifikation kann man sich leicht denken, dass in der Chemie so schnell niemand mehr eine falsifizierbare These aufstellt. Der von Karl Popper vorgeschlagene Mechanismus der wissenschaftlichen Fortentwicklung spielt in der Chemie demzufolge eine geringe Rolle.20

Die zweite Geschichte bezieht sich auf einen aufsehenerregenden Durchbruch in den Materialwissenschaften. Die Erzeugung von Licht durch elektrische Anregung von Halbleitermaterialien ist lange bekannt, die ersten Light-emitting Diodes, LEDs, gab es schon in den sechziger Jahren. Rote und grüne Signallämpchen ließen sich leicht herstellen, aber zum Einstieg in die Beleuchtungstechnik und für eine Alternative zu Leuchtstoffröhren und Glühbirnen brauchte man eine blau strahlende LED, um damit weißes Licht zu mischen. Für die Farbe des abgestrahlten Lichts ist der sogenannte Bandabstand des Halbleitermaterials verantwortlich. Die Stoffe Galliumarsenid und Galliumphosphid waren bereits als gut geeignete LED-Materialien bekannt, aber ihr Bandabstand war noch zu gering. Der im Periodensystem über dem Element Phosphor stehende Stickstoff wäre als Bindungspartner genau richtig gewesen, wie sich leicht ausrechnen ließ, aber leider war diese analoge Gallium-Stickstoff-Verbindung, also Galliumnitrid, präparativ nur höchst unvollkommen zugänglich. Nach vielen vergeblichen Versuchen hatte die Gemeinde der Materialwissenschaftler diesen Stoff als unmöglichen Stoff im Prinzip aufgegeben.

Auf einer materialwissenschaftlichen Konferenz im Jahr 1992 kamen nur fünf Zuhörer zum Vortrag über Galliumnitrid, während sich mehr als fünfhundert Forscher für die deutlich schlechter geeignete, aber eben zugängliche Alternative Zinkselenid interessierte. Das berichtet Shuji Nakamura in seiner Nobelpreis-Vorlesung im Jahr 2014.21 Ihm war es 1991 praktisch im Alleingang als Einzelforscher in einem kleinen Firmenlabor gelungen, den unmöglichen Stoff Galliumnitrid eben doch in der nötigen Reinheit zu erhalten, mit einem chemischen Trick, der heute weltweit verwendet wird.22 Alle blauen und weißen LEDs, die gerade die Beleuchtungstechnik revolutionieren, gehen auf diesen Erfolg eines wissenschaftlichen Einzelgängers zurück. Für unsere Betrachtung ist wichtig: auch diese Einschränkung der Welt der Stoffe ist gescheitert, obwohl sie schon fast von der Scientific Community anerkannt war.

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