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3. Naturstoffe

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Bisher mag der Eindruck aufgekommen sein, es gehe bei der Synthesechemie nur um den neuen Stoff, der unerhörte Eigenschaften hat und damit unsere Welt und unsere Möglichkeiten erweitert. Ein ganz wesentlicher Teil ist jedoch auch die Synthese von sogenannten Naturstoffen.

Auch hier handelt es sich um eine ganz chemiespezifische Aneignung der Natur: der Stoff wird aus seiner natürlichen Umgebung, einer Pflanze oder einem Tier, extrahiert, gereinigt und analysiert, und auf diesem Weg in die Domäne der Chemie transferiert. Der Stoff wird zum Reinstoff, eine typische Abstraktion: der Stoff in der Flasche auf der Laborbank wird zum Erklärungsmodell für die unordentlich vermischte und überkomplexe Welt außerhalb des Labors. Der eigentliche Höhepunkt der Aneignung ist jedoch die sogenannte Totalsynthese, der Stoff wird Atom für Atom in vielen Syntheseschritten im Labor nachgebaut, bis schließlich der naturidentische Stoff vorliegt. Im Vergleich zu anderen menschengemachten Artefakten leistet die Chemie hier etwas ganz Besonderes: allen anderen technologischen Artefakten sehen wir den Unterschied zu Naturprodukten auf den ersten oder zweiten Blick an. Es gibt dagegen keine wissenschaftlich anerkannte Methode, mit der man einen chemisch synthetisierten Naturstoff vom in der Biosphäre vorkommenden Stoff unterscheiden kann, der synthetisierte Stoff ist naturidentisch. Allenfalls eine sogenannte Stabil-Isotopenanalyse könnte Hinweise darauf geben, ob z.B. erdölbasierte Ausgangsstoffe für die Synthese verwendet wurden, aber das ist kein prinzipieller Einwand, weil ja eine ganze Reihe anderer Ausgangsstoffe mit den gleichen Isotopenmustern wie in der aktuellen Biosphäre zur Verfügung stehen und ebenfalls für die Synthese verwendet werden können. Für den Chemiker ist deshalb der erbittert geführte Rechtsstreit zwischen der Stiftung Warentest und dem Schokoladenfabrikanten Alfred Ritter einfach nur absurd.15 Die Stiftung Warentest hatte im Jahr 2013 in einem ihrer Berichte behauptet,16 die Deklaration „natürliches Aroma“ für die Ritter-Sport-Sorte „Vollnuss“ sei irreführend, weil der zur Geschmacksabrundung eingesetzte Aromastoff Piperonal in diesen Mengen gar nicht durch Extraktion aus Pflanzen gewonnen werden könne. Es müsse sich mithin um synthetisches Piperonal handeln, das tatsächlich chemisch leicht gewonnen werden kann und vielfach als Aromastoff eingesetzt wird. Die Ritter GmbH hat dem widersprochen und eine einstweilige Verfügung gegen die Stiftung Warentest erwirkt, auch der Widerspruch gegen diese Verfügung wurde letztes Jahr vor dem Oberlandesgericht München abgewiesen.17 Die Stiftung Warentest könne nicht nachweisen, dass das Piperonal nicht „natürlich“ sei, also nicht nur mit physikalischen Methoden aus Pflanzen gewonnen werde. Das ist tatsächlich ein in dieser negativen Form schwer zu beweisender Sachverhalt, wie wir gesehen haben. Die umgekehrte Frage an das Unternehmen, ob denn das Piperonal tatsächlich nur aus Pflanzen gewonnen werde, musste das Gericht nicht klären. Die Zulieferfirma für den strittigen Stoff, die Firma Symrise aus Holzminden, hat zwar vor Gericht an Eides statt versichert,18 das Piperonal werde durch Extraktion aus Sassafrasbäumen gewonnen, das Verfahren und vor allem der Maßstab sind jedoch weiter unklar. Ein Grund für diese geringe Transparenz dürfte darin liegen, dass der eigentliche durch Pflanzenextraktion gewonnene Grundstoff Safrol, aus dem Piperonal sowohl biotechnologisch wie chemisch leicht gewonnen werden kann, auch als Ausgangsstoff für die illegale Droge Ecstasy dienen kann, es sich also um einen weltweit ziemlich dunklen Markt handelt. Wie gesagt, ein Chemiker hätte diesen Streit nicht begonnen, in Bezug auf alle relevanten Eigenschaften und Messungen ist die Unterscheidung zwischen „synthetisch“ und „natürlich“ völlig irrelevant. Das werbewirksame Attribut „natürlich“ ist übrigens juristisch nicht definiert, obwohl es z.B. in der im geschilderten Rechtsstreit relevanten Europäischen Aromenverordnung prominent und häufig verwendet wird. Man muss schon alternativen Glaubenssystemen wie dem Vitalismus vergangener Jahrhunderte anhängen, um einen Unterschied zwischen natürlich und naturidentisch irgendwie zu begründen. Dennoch lebt die Aromaindustrie inzwischen nicht schlecht von dieser künstlichen Unterscheidung, das aus Vanilleschoten gewonnene Vanillin ist schließlich um den Faktor Tausend teurer als der identische und durch eine einfache Synthese zu gewinnende Stoff.

Nicht in allen Fällen ist die chemische Herstellung von Naturstoffen so einfach wie beim Piperonal und beim Vanillin. Die Naturstoffsynthese galt und gilt als die hohe Schule der Synthesechemie, in der extrem aufwändige und trickreich verschachtelte, in sogenannten Stufen durchgeführte Synthesen in der Regel zu wenigen Gramm eines Naturprodukts führen. Dieser Forschungszweig ähnelt am ehesten dem Kuhn’schen Lösen von Rätseln innerhalb der Rahmenbedingungen eines Paradigmas. Die Zielmoleküle gibt die Natur vor, und oft folgt nach der ersten Beschreibung eines exotischen neuen Stoffs zum Beispiel aus einer Meeresschnecke ein Wettrennen der besten Forschungsgruppen um die erste Totalsynthese.

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