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2. Serendipität

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Man könnte argumentieren, dass die Erschließung der Welt der Stoffe auch eine „Normalwissenschaft“ im Sinne von Thomas S. Kuhn ist.8 In diesem Fall wäre die Synthese neuer Stoffe nichts anderes als die ausdifferenzierte Entfaltung eines Paradigmas beziehungsweise einer „disciplinary matrix“ (Disziplinäres System), wie er es in einer späteren Auflage der „Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ genannt hat.9 Chemiker wären demnach Problemlöser innerhalb eines nicht infrage gestellten wissenschaftlichen Rahmens, der die Vorgehensweisen bei Beobachtung und Experiment determiniert. Der Kuhn’sche Normalwissenschaftler ist notwendigerweise unkritisch, weil er diesen Rahmen des gültigen Paradigmas nicht infrage stellt. Gegen diese Sichtweise sprechen die Überraschungen, die die Welt der Stoffe bereit hält und die kritische Fragen von alleine auslösen. Ein Beispiel wäre die Entdeckung von oxidischen Materialien, die schon bei vergleichsweise hohen Temperaturen den elektrischen Strom widerstandslos leiten, die also sogenannte Supraleiter sind.

Bevor Johannes Bednorz und Karl Müller im Jahr 1986 in einem Lanthan-Barium-Kupferoxid Supraleitung bei 35 Kelvin entdeckten,10 hatte es weder in der schon recht gut etablierten physikalischen Theorie der Supraleitung11 noch im Erfahrungswissen der chemischen Materialwissenschaft Hinweise auf die bloße Möglichkeit eines solchen Materials gegeben. Die Entdeckung löste eine beispiellose Welle von ähnlichen Syntheseversuchen aus, denn supraleitende metallische Materialen haben eine Vielzahl wichtiger Anwendungen,12 beispielsweise in der Magnetresonanztomographie. Allerdings müssen sie auf die Temperatur von flüssigem Helium bei vier Kelvin gekühlt werden, was sehr aufwändig ist und die Verwendung von Supraleitern erheblich einschränkt. Schon der mögliche Wechsel auf den deutlich billigeren flüssigen Stickstoff mit 77 Kelvin war ein attraktives Ziel, und so dauerte es auch nur wenige Monate, bis Paul Chu an der University of Alabama mit Yttrium-Barium-Kupferoxid einen oxidischen Supraleiter fand, der die gewünschte Eigenschaft schon bei 92 Kelvin aufwies.13 Bednorz und Müller haben übrigens noch im gleichen Jahr 1987, in dem sie auf einer Konferenz zum ersten Mal öffentlich über ihren neu entdeckten Stoff berichteten, den Nobelpreis für Physik erhalten. Kontingente Ereignisse wie dieses sprechen gegen eine Sicht auf die Synthesechemie als normalwissenschaftliche Abarbeitung eines Kuhn’schen Paradigmas, die nächste Überraschung, die nicht in die Erwartungen passt, kann jeden Tag berichtet werden. Nicht umsonst hat das Kunstwort „serendipity“ oder eingedeutscht „Serendipität“ in der chemischen Literatur einen ganz besonderen Klang. Es kann nur sehr unvollkommen mit „glücklicher Zufall“ übersetzt werden, denn zu diesem glücklichen Zufall gehört natürlich auch der vorbereitete Geist des Wissenschaftlers, der zum Beispiel die richtige Frage an seinen neu gewonnen Stoff stellen muss. Im Fall von Bednorz und Müller war das die Messung der elektrischen Leitfähigkeit bei tiefen Temperaturen. Tatsächlich hat sich später herausgestellt, dass schon früher eine Reihe von Festkörperchemikern ähnliche oxidische Materialien hergestellt hatte, jedoch ohne sie auf Supraleitung zu testen. Der Serendipität verdanken wir speziell in der Chemie eine ganze Reihe von nützlichen Produkten, von den Silikonen über Teflon bis zu Post-it Zetteln und Viagra.14

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