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5. Fazit
ОглавлениеNaturwissenschaftler im Allgemeinen und Chemiker im Besonderen müssen metaphysische Hintergrundannahmen treffen. Diese können explizit sein oder implizit. Selbst wenn man mit Fleischhacker meint, die naturwissenschaftliche Methode umgehe metaphysische Vorannahmen,38 dann folgt doch aus der Umgehung, dass es etwas zu umgehen gilt und etwas zu umgehen gibt, eben Metaphysik. Implizite Vorannahmen betreffen etwa einen Reduktionismus, d.h. Chemie lässt sich ontologisch bzw. nomologisch auf Physik reduzieren, oder einen robusten wissenschaftlichen Realismus: Die naturwissenschaftlich erforschbaren Systeme oder Dinge existieren hinreichend getrennt und unabhängig von uns, verhalten sich regelmäßig und sind erkennbar. Maximal könnte man mindestens als Erkenntnisziel objektive Erkenntnis postulieren. Der kleinste gemeinsame Nenner des wissenschaftlichen Realismus, der unter Chemikern weit verbreitet ist, lautet, dass Erkenntnissubjekte eine Perspektive auf etwas haben. Eine Perspektive ist immer eine Perspektive auf etwas.
„Dieses „etwas“ ist die Sache, die „res“, deren Unabhängigkeit der Realist betont. Und eine Perspektive auf etwas ist die Perspektive von etwas auf etwas im Raum – auch wenn es sich dabei um ein Wesen mit zumindest rudimentärem Bewusstsein handeln muss.“39
Mit Blick auf die Metaphysik der Chemie lässt sich sagen, dass Chemiker nicht unbedingt von Stoffen als Substraten im Sinne ewiger Entitäten sprechen müssen, da sie es oft mit konkreten Stoffen zu tun haben. Eine Vielzahl von Verhältnissen der Chemie zu Natur lassen sich aufweisen, in der es „die Natur“ nicht gibt. Das ist schon deshalb der Fall, weil durch die Tatsache, dass Chemiker als Naturwissenschaftler Experimente konzipieren und durchführen, „Natur“ im Zusammenhang mit metaphysischen, methodologischen und weiteren theoretischen Vorannahmen zu verstehen ist.
1 1 Siehe dazu etwa Rusterholz, P./ Meyer Schweizer, R./ Zwahlen, S.M. (Hg.), Aktualität und Vergänglichkeit der Leitwissenschaften, Berlin 2009 und Sukopp, Th., Naturkonzepte und naturwissenschaftliches Denken im Philosophieunterricht: Didaktische Reflexionen, Berlin 2017. Leitwissenschaften beanspruchen in epistemischer und methodisch-methodologische Sicht ein bestimmtes Primat vor anderen Wissenshaften. Sie bezeichnen sich implizit oder explizit als „Speerspitze“ der Forschung, betreiben Begriffspolitik und bestimmen maßgeblich die Relevanz bestimmter Forschungsbereiche und Forschungsgegenstände.
2 Der besseren Lesbarkeit wegen verwende ich immer die männliche Form. Gemeint sind allerdings immer beide Geschlechter.
3 Wünsch, G., Einführung in die Philosophie der Chemie. Ein Studienbuch für Chemiker und an Chemie Interessierte, Würzburg 2000, 2f. und Kap. 2. Die Darstellung von Wünsch ist ausdrücklich für Chemiker geeignet und stellt aus Sicht eines tatsächlich praktizierenden Chemikers die philosophischen Probleme dar. Es liegt mir fern die Darstellung ob eines vermeintlich relativ niedrigen philosophischen Reflexionsniveaus zu kritisieren, da das Buch aus der chemischen Praxis heraus viele Einblicke darüber gibt, wie Chemiker gemeinhin methodische und methodologische Probleme angehen.
4 Janich, P., Handwerk und Mundwerk. Über das Herstellen von Wissen, München 2015.
5 Kehrer, G., Atheismus, Religion und Wissenschaft? Eine Skizze möglicher Verhältnisse, in: Erwägen Wissen Ethik (vormals „Ethik und Sozialwissenschaften (EuS). Streitforum für Erwägungskultur“) 25/1, 2014, 3.
6 Tetens, H., Die Einheit der Wissenschaft und die Pluralität der Wissenschaften, in: Rusterholz, P. et al., Aktualität und Vergänglichkeit der Leitwissenschaften (Fn 1), 187.
7 Ziche, P./ van Driel, J., Wissenschaft, in: Europäische Geschichte online, 2011, 4ff. (siehe http://ieg-ego.eu/de/threads/hintergruende/wissenschaft/paul-ziche-joppe-van-driel-wissenschaft/?searchterm=Ziche&set_language=de, abgerufen am 28.12.2016).
8 Ebd., 4f.
9 Ebd., 5.
10 Ebd., 6.
11 Scerri, M./ McIntyre, L., The Case for the Philosophy of Chemistry, Synthese 111, 1997, 214.
12 Craig, E., Entry „Metaphysics“, 1998, Routledge Encyclopedia of Philosophy, (s. https://www.rep.routledge.com/articles/metaphysics/v–1/ am 28.12.2016).
13 Schummer, J. Philosophie der Chemie: Rückund Ausblicke, in: Griesar, K. (Hg.), Wenn der Geist die Materie küßt, Frankfurt/M. 2004 (siehe http://www.joachimschummer.net/papers/2004pr_PhilChem_Griesar.pdf, abgerufen am 5.4.2016, 12 Seiten), 4.
14 Dass Reinheit ein Problem für Chemiker ist, liegt auf der Hand. Reinheit verweist darauf, dass es Chemiker mit realen Stoffproben zu tun haben, nicht mit „abstrakter Materie“, die auf eine Größe wie „Masse“ zu reduzieren ist.
15 Brakel, J.van, Chemistry as the Science of transformation of Substances, in: Synthese 111, 1997, 253f.
16 Zwar gibt es eine Reihe von Fortschritten, etwa in der Quantenchemie, quantenphysikalische Systeme auf Physik begrifflich bzw. theoretischnomologisch zu reduzieren. Insgesamt kann aber kein Reduktionsversuch eines gehaltvollen chemischen Konzepts von „Substanz“ auf Physik als gelungen gelten.
17 Paneth, F.A., The Epistemological Status of the Chemical Concept of Element, in: Foundations of Chemistry Vol. 5, 2003,113–145, (Wiederabdruck aus „British Journal for the Philosophy of Science“ Vol. 13, 1–14 (Part I) and 144–160 (Part II), Oxford 1962,
18 Scerri, M., Some Aspects of the Metaphysics of Chemistry and the Nature of the Elements, in: HYLE- International Journal for Philosophy of Chemistry, 11/2, 2005, 127–145 (s. http://hyle.org/journal/issues/11–2/scerri.pdf, abgerufen am 5.4.2016).
19 S. Bensaude-Vincent, B., The Chemists’ Style of Thinking, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 32, 2009, 365–378. Bensaude-Vincent weist deutlich darauf hin, dass man Chemie in philosophischer Sicht getrennt von Physik und anderen Naturwissenschaften zu behandeln hat, wenn man ihr gerecht werden möchte.
20 Nordmann, A., Die im Lichte sieht man nicht? (Nackte Tatsachen in der Wissenschaftskritik), in: Zittel, C. (Hg.), Wissen und soziale Konstruktion in Geschichte, Wissenschaft und Kultur, Berlin 2002, 47–65.
21 Warum ist das ein Fehlschluss? Es mag richtig sein, dass Naturwissenschaften über Natur sprechen und Aussagen darüber treffen, welche Bereiche von „Natur“ sich entsprechend bestimmter modellhafter und theoretischer Vorannahmen in bestimmter Weise verhalten. Doch der Schluss auf eine fehlende Übernatur ist eben keiner, den man allein mit naturwissenschaftlichen Mitteln treffen kann. Damit ist nicht gezeigt, dass ein solcher Schluss falsch oder zutreffend ist. Behauptet ist lediglich, dass man auf metaphysischem Terrain bitte metaphysische Argumente formulieren und bewerten sollte.
22 S. etwa Gasser, G.,/ Stefan, M., The Heavy Burden of Proof for Ontological Naturalism, in: Gasser, G. (Hg.), How Successful is Naturalism?, Heusenstamm 2007, 159–182.
23 Bunge, M./ Mahner, M., Über die Natur der Dinge. Materialismus und Wissenschaft, Stuttgart 2004, 11.
24 Mahner, M., Kann man als metaphysischer Naturalist zugleich erkenntnistheoretischer Naturalist sein?, in: Sukopp, Th./ Vollmer, G. (Hg.), Naturalismus: Positionen, Perspektiven, Probleme, Tübingen 2007, 122.
25 Ebd.
26 Der Rest dieses Abschnitts basiert auf Sukopp, Th., Radikaler Naturalismus: Beiträge zu Willard Van Orman Quines Erkenntnistheorie, Berlin 2006, 76.
27 Quine, W.V.O., Naturalismus – oder: Nicht über seine Verhältnisse leben, in: Keil, G./ Schnädelbach, H. (Hg.), Naturalismus: Philosophische Beiträge, Frankfurt/M. 2000, 121.
28 Flonta, M., Gemäßigter und radikaler erkenntnistheoretischer Naturalismus, in: Keil et al., Naturalismus (Fn 27), 163.
29 Gloy, K., Mechanistisches ‒ organizistisches Naturkonzept, in: Gloy, K, (Hg.), Natur- und Technikbegriffe. Historische und systematische Aspekte: von der Antike bis zur ökologischen Krise, von der Physik bis zur Ästhetik, Bonn 1996, 98–117.
30 Freise, G., Der Naturbegriff der Naturwissenschaften oder von der Notwendigkeit, den „natur“wissenschaftlichen Unterricht neu zu konzipieren, in: Chimica didacta: Zeitschrift für Didaktik der Chemie 19/2, 1993,125, die Egon Becker zitiert, ebd., 133, Endnote 1.
31 Freise, Der Naturbegriff der Naturwissenschaften (Fn 30), ebd.
32 Gloy, Mechanistisches ‒ organizistisches Naturkonzept (Fn 29), 99–106.
33 Schummer, J., The notion of nature in chemistry, in: Studies in History and Philosophy of Science 34, 2003, 707.
34 Ebd., 709f. Zwar bezieht sich Schummer auf die Alchemie. Die oben dargestellten Naturverhältnisse lassen sich allerdings sehr gut auf (moderne) Chemie übertragen.
35 Siehe B XII ff. der Akademie-Ausgabe Bd 3, 10.
36 Zitiert nach Gloy, Mechanistisches ‒ organizistisches Naturkonzept (Fn 29), 104.
37 Thompson, M., Naturalistic Metaphysics, in: Chisholm, R.M./ Feigl, H./ Frankena, W.K./ Passmore, J./ Thompson, M. (Hg.), Philosophy, New Jersey 1964, 183.
38 Fleischhacker, L.E., The three degrees of reflection and the limits of modern science, in: Philosophia Scientiae No.S1, 1996, 150.
39 Strobach, N., Perspektivität und Realismus, Vortrag an der Universität Saarbrücken am 31.5.2007, 7 (http://www.philo.uni-saarland.de/people/analytic/strobach/neueseite/pdfs/Saarbruecken.pdf, abgerufen am 5.4.2016).