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Einführung Georg Souvignier
ОглавлениеWissenschaft genießt Vertrauen. Aussagen, die sich auf die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung berufen, dienen als Grundlage von technischen Entwicklungen, persönlichen und politischen Entscheidungen. Sie gelten als zuverlässiger als Meinungen oder religiöser Glaube, da sie beanspruchen, auf objektivierbaren Kriterien zu beruhen und damit prinzipiell von jedermann überprüfbar sind, also dem subjektiven, also potenziell beliebigen Urteil entzogen sind.1
Wie weit geht diese Objektivität? Schafft Wissenschaft zuverlässiges Wissen? Wenn wir bei Entscheidungen und dem Entwurf von Weltbildern Wissenschaft(en) als Fundament verwenden, sind wir gut beraten, nach deren jeweiliger Fundierung, ihren Denkvoraussetzungen und Entstehungsbedingungen zu fragen.
Das Vertrauen in Wissenschaft gründet sich zum erheblichen Teil auf die beeindruckenden Erfolge im naturwissenschaftlich-technischen Bereich. Moderne Naturwissenschaft hat überprüfbare und vielfach bestätigte Theorien hervorgebracht. Auf deren Grundlage wurden und werden technische Entwicklungen von der Dampfmaschine bis zur Künstlichen Intelligenz, von hochwirksamen Medikamenten bis zu biotechnologisch veränderten Lebewesen hergestellt. Offenbar bringen Wissenschaften mit ihren aktuellen Methoden Wissen und Erkenntnisse hervor, mit deren Hilfe sich die Natur in verlässlicher Weise handhabbarer machen lässt.2 Dieser Umstand legt den Schluss nahe, dass es sich bei diesen Erkenntnissen um Wissen über die Welt handelt, wie sie ist. Dieser Schluss ist nicht unproblematisch. Die faktisch erwiesene Zuverlässigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse bezieht sich auf pragmatische Vorhersagen, nicht jedoch auf Ontologien. Der Schritt zu metaphysischen Aussagen oder Hypothesen bedarf der sorgfältigen Analyse der Voraussetzungen und Reichweite der jeweiligen wissenschaftlichen Erkenntnisse.
Es wäre nämlich ein Missverständnis zu glauben, Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen beschäftigten sich nur mit den Tatsachen dieser Welt und trieben ihre Wissenschaft ansonsten voraussetzungslos. Keine Wissenschaft kommt ohne Voraussetzungen inhaltlicher oder methodischer Art aus. Tatsächlich sind schon die Forschungsmotivation, die Wahl der Fragestellung, der Methode und der Sprache Denkvoraussetzungen, die ihrerseits – reflektiert oder nicht – nicht frei von Grundüberzeugungen sind. Damit muss nicht notwendigerweise der wissenschaftliche Erkenntnisprozess kontaminiert sein. Sie können sich aber auf die Struktur und die Art der gewonnenen Erkenntnis auswirken und die Reichweite ihrer Erklärungen bedingen. Auch sind sie zu berücksichtigen, wenn Schlüsse aus den Erkenntnissen gezogen werden.
Die verschiedenen Fachdisziplinen unterscheiden sich in ihren Gegenständen und Fragestellungen. Insofern muss die Frage nach der Objektivität von Wissenschaft die Pluralität der Wissenschaften berücksichtigen. Es gilt, die fachspezifischen Voraussetzungen einerseits und mögliche Gemeinsamkeiten andererseits herauszuarbeiten, um Antworten näher zu kommen.
Die Stiftung Theologie und Natur, Köln und die Bischöfliche Akademie des Bistums Aachen haben dazu Wissenschaftler aus Philosophie, Theologie, Mathematik, Physik, Biologie, Chemie, Psychologie, Soziologie und Klimaökonomie eingeladen, in einem Symposium Denkvoraussetzungen ihrer jeweiligen Wissenschaften darzustellen und miteinander zu diskutieren. Der Wert des interdisziplinären Austauschs lag vor allem darin, in der Konfrontation mit einer Außensicht die Besonderheiten und Parallelen und Gemeinsamkeiten deutlicher herauszuarbeiten. Die Autoren dieses Bandes haben ihre Beiträge nach den Diskussionen des Symposiums überarbeitet und vertieft.
In der Antike waren Natur- und Sittengesetz aufeinander bezogen.3 Die vorgefundene und beschriebene Ordnung der Natur, insbesondere auf der Basis der Geometrie, war eingebunden in eine absolute, den Kosmos tragende Sinnstruktur.4 Das antike, bis ins Mittelalter dominierende Weltmodell schloss neben der Beschreibung von Naturvorgängen Sinn und Ethik ein. In Bezug auf präzise Vorhersagen war es heutigen Modellen jedoch weit unterlegen. In der Neuzeit – verbunden mit Namen wie Bacon, Galilei, Newton, Laplace, Lavoisier, Darwin – fand ein fundamentaler Paradigmenwechsel statt. Quantität wurde zur Zentralkategorie, während Qualitäten zum subjektiven Schein degradiert wurden.5 Nicht mehr Wesensgründe waren das Ziel wissenschaftlichen Strebens, sondern die Formulierung von Naturgesetzen, die im Sinne einer formalen mathematischen Regel die Erscheinungen zutreffend beschreibt.6 Anders als bis ins Mittelalter, als noch ein Sinnzusammenhang vorausgesetzt wurde, liegen der neuzeitlichen Methode, Wissenschaft zu betreiben, andere Voraussetzungen zugrunde, die am markantesten in der Physik ausgeprägt sind. Die Welt wird dabei insgesamt als Sachzusammenhang aufgefasst, innerhalb dessen unabhängig vom beobachtenden Subjekt Gesetzmäßigkeiten existieren, die universal, d.h. im gesamten Kosmos, gelten. Diese Voraussetzung begründet ebenfalls den Anspruch der Physik, grundlegende Gesetze und Zusammenhänge formulieren zu können, deren Reichweite prinzipiell unbegrenzt ist und die zugleich den Hintergrund bzw. die Basis für andere Spezialwissenschaften bilden.
Der Philosoph Thomas Sukopp analysiert methodologische und metaphysische Grundannahmen der klassischen Naturwissenschaften und verweist auf Unterschiede in Abhängigkeit von den jeweils untersuchten Gegenständen. Grundlegende Voraussetzungen für die Wissenschaften seien die Annahme, dass untersuchte Gegenstände getrennt vom Untersucher existieren, erkennbar sind und sich regel-(gesetz-)mäßig verhalten. Schlussfolgerungen aus Experimenten basierten auf Annahmen über deren Reichweite. Während diese Hintergründe im Alltag vieler Naturwissenschaftler keine Rolle spielten, die – unter Verzicht auf den Anspruch, grundlegende Prinzipien zu finden – einen „robusten praktischen Realismus unterstellen“7, hätten metaphysische Annahmen von Wissenschaftlern weitreichende Konsequenzen, wenn von diesen Annahmen „ausgehend auf die Verfasstheit von Realität und Wissen schlechthin“8 geschlossen werde. Eine vorausgesetzte Subjekt/Objekt-Spaltung und ein Maschinenparadigma führten zur Reduktion auf Mathematisierbares mit der Gefahr der ontologischen Reduktion bei mangelnder Reflexion. So schließe die Annahme einer geschlossen kausalen Welt die Verletzung von Naturgesetzen aus. Ein ontologischer Naturalismus sei dann die Nullhypothese, die angenommen werde, solange sie nicht falsifiziert sei. Sukopp betont, dass eine solche Aussage nicht mehr inhärent naturwissenschaftlich sei. Während die Physik einen ausgreifenderen universalen Wahrheitsanspruch erhebt, zeigt Sukopp am Beispiel der Chemie, dass es in dieser Hinsicht erhebliche Unterschiede zwischen den Naturwissenschaften gibt. Die Chemie verzichte auf ontologische Aussagen über ihren Gegenstand, die Elemente, da die Operationalisierbarkeit des Begriffs im Vordergrund stehe. Da es um die Relation von Stoffen gehe, bestehe hier weniger Metaphysikbedürftigkeit.
Die Eigenständigkeit und die spezifischen Denkvoraussetzungen der Chemie führt der Chemiker Nikolaus Korber weiter aus. Während die Physik nach grundlegenden Prinzipien und Gesetzen suche, strebe die Chemie danach, die Welt zu verstehen, indem sie sie verändere.9 Sie ordne und untersuche Stoffe nicht nur, sondern schaffe sie neu und sei so als Wissenschaft prinzipiell unabgeschlossen. Im Gegensatz zur Physik zeichne sich die Chemie durch eine ausgesprochene Theoriearmut aus. Chemische Gesetze seien pragmatisch und hätten das Verständnis chemischer Reaktionen außerordentlich bereichert, seien aber bei exakter Betrachtung falsch im Sinne von „nicht umfassend gültig“. Korber weist darauf hin, dass auch die von der Physik formulierten Gesetze exakt nur für theoretische Modelle und nicht für die reale Welt gelten; den Modellen liege immer eine Abstraktion oder Reduktion der Wirklichkeit zugrunde. Überraschender Weise sei es bisher auch noch nicht gelungen, chemische Prozesse ohne ad-hoc-Annahmen auf eine quantenmechanische Beschreibung zu reduzieren. Mit dem Philosophen Jaap van Brakel ist er der Auffassung, der wesentliche Beitrag der „Chemie-Philosophie zur Wissenschaftsphilosophie [sei] der Fokus auf die Vielfalt der Stoffe und auf Synthesen statt auf eine Reduktion auf Ursprünge und fundamentale Prinzipien.“10
Der Biologe Siegfried Scherer unterscheidet in der Biologie zwei grundlegend unterschiedliche Methodenansätze: Die empirische Methode, die wiederholbare Phänomene untersucht, beobachtet und mit Hilfe von Experimenten erforscht und die historisch-empirische Methode, die sich nicht reproduzierbaren historischen Prozessen widmet und dazu empirische und historische Methoden kombiniert. Wesentliche Grundannahmen in der biologisch-empirischen Forschung, die von allen Biologen geteilt würden, seien die Forderung der Reproduzierbarkeit von Beobachtungen und der Ausschluss „übernatürlicher“ Interventionen. Scherer führt aus, dass diese sich als nützlich erweisenden Denkvoraussetzungen gleichzeitig Grenzen der Erkenntnis mit sich bringen. Ursachen singulärer Ereignisse seien z.B. mit dieser naturwissenschaftlichen Methode nicht zugänglich. Er legt Wert auf die Feststellung, dass die non-interventionistische Vereinbarung weltanschaulich neutral sei11, da es sich um eine methodische Annahme handle, die unabhängig von einer weltanschaulichen Positionierung sei, sei sie nun religiös oder materialistisch. Wie bedeutsam eine sorgfältige Unterscheidung zwischen weltanschaulichen und naturwissenschaftlichen Denkvoraussetzungen ist, illustriert er am Beispiel der Evolutionstheorie. Der von Darwin beschriebene Mechanismus von Selektion und Mutation zur Erklärung des Evolutionsprozesses, erweitert zur Synthetischen Theorie, sei zunehmend absolut gesetzt worden, obwohl insbesondere im Bereich der Makroevolution wesentliche Erklärungen offen seien. Scherer vertritt die These, diese Engführung habe die Weiterentwicklung der Evolutionstheorien jahrzehntelang gehemmt.
Die genannten naturwissenschaftlichen Methoden und Denkvoraussetzungen der Biologie seien hervorragend geeignet, Teilaspekte des Lebendigen zu verstehen. Allerdings bezweifelt er, dass die Biologie innerhalb dieses Denkrahmens ein umfassendes Verständnis davon gewinnen kann, was Leben ist. Zentrale Merkmale lebendiger Organismen, wie Zielgerichtetheit und Zweckmäßigkeit, die diese von nichtlebender Materie unterscheiden, seien nämlich mit naturwissenschaftlichen Begriffen nicht zu beschreiben. So erzwinge der methodische Rahmen, Finalität auf materielle Prozesse und Eigenschaften der Materie zu reduzieren.
Auf Probleme der Deutung physikalischer Theorien geht der theoretische Physiker Otfried Gühne am Beispiel der Quantenmechanik ein. Bei der Quantenmechanik handelt es sich um eine grundlegende Theorie, die aktuell als zuverlässige Grundlage vieler Teildisziplinen der Physik gilt. Ihre Voraussagen wurden in den zurückliegenden Jahrzehnten vielfach in Experimenten mit hoher Präzision bestätigt. Umstritten ist dagegen die Deutung ihrer Beziehung zur Realität. Beschreibt sie lediglich den Ausgang von Experimenten oder macht sie weitergehende Aussagen über die Beschaffenheit der Welt? Ist die Welt deterministisch? Existiert physikalische Realität außerhalb des Messvorgangs? Antworten auf diese Fragen hingen, so Gühne, von subjektiven Wertungen ab.12
Zur Illustration vergleicht er die klassische Quantenmechanik mit einer alternativen Formulierung derselben, der Bohmschen Mechanik bezogen auf Experimente am Doppelspalt. Beide Varianten stimmen in der Voraussage des Experiments überein, unterscheiden sich jedoch in den Grundlagen für eine Weltdeutung. Interessant an diesem Beispiel ist die Wechselbeziehung zwischen mathematischer Formulierung einer Theorie und deren weltanschaulichem Gehalt. Dass es hier um mehr als eine nüchtern sachliche Auseinandersetzung geht, nämlich um einen auch weltanschaulichen Streit, in dem physikalische und metaphysische Argumente aufeinandertreffen illustriert Gühne mit Zitaten aus einer ebensolchen Debatte.
Auch der Physiker und Theologe Ulrich Beuttler setzt bei den Denkvoraussetzungen der Physik an und beschäftigt sich mit deren Konsequenzen für die Weltdeutung. Er konzentriert sich in seinem Beitrag auf die Kosmologie als physikalische Teildisziplin und erläutert deren Prinzipien, die er als Ausdruck des „Glaubens an die Rationalität und Logizität der physischen Welt“13 interpretiert. Indem die „Naturvorgänge als Formen idealer Objektivität und absoluter mathematischer Identität angesehen werden“14 und „die vorwissenschaftlich anschauliche Natur nicht mehr als lebendiger Untergrund der wissenschaftlichen Idealisierung angesehen wird, sondern durch diese ersetzt wird“15, werden sie sinnentleert. Beuttler weist darauf hin, dass die Grundbegriffe, mit denen die Kosmologie operiert und auf denen ihre Theoriebildung basiert, ihre Grundlage in der Alltagserfahrung haben und so im Mesokosmos verankert sind. Dennoch habe – so argumentiert er mit Edmund Husserl – das Streben der Naturwissenschaft nach perspektivenfreier Objektivität zu einem Verlust an Lebensbedeutsamkeit geführt. Um die Diskrepanz zwischen dem in der Lebenswelt befangenen Menschen, der seinen Ort im Kosmos sucht und dem ein Sinnbedürfnis eigen ist, und der modernen Kosmologie zu überwinden, sei es erforderlich und auch möglich, den „gelebten lebensweltlich-vertrauten Raum mitsamt seinen sinnhaften Ordnungsstrukturen und Orientierungen in den sinnleeren physikalischen Kosmos einzuzeichnen und diesen von jenem her zu erschließen.“16
Mit dem Brückenschlag zwischen der Lebenswelt des Menschen und den in den Naturwissenschaften vorherrschenden erkenntnistheoretischen Paradigmen und ihren Auswirkungen auf die Gewinnung von Erkenntnis beschäftigt sich auch der Theologe Ulrich Lüke. Er sieht sich konfrontiert mit dem Problem, dass der Theologie die Wissenschaftlichkeit entweder abgesprochen oder ihr lediglich eine Randrolle mit stark beschränkter Relevanz zugestanden wird.
Dazu greift er die Kriterien der Evolutionären Erkenntnistheorie auf – die ihrerseits eng an eine naturwissenschaftlich geprägte Weltsicht anknüpft und fordert, nur faktische Erkenntnisse zu berücksichtigen – und stellt sich der Frage, wie sich unter deren Kriterien die These „Gott ist Geheimnis und Grund der Welt“ in einer Weise transformieren lässt, die wissenschaftlichen Ansprüchen über die Theologie hinaus genügt. Mit der Evolutionären Erkenntnistheorie wählt er bewusst einen naturalistisch geprägten Ansatz, der religionskritisch und der Theologie gegenüber skeptisch verfasst ist, um die Denkvoraussetzungen der Theologie deutlich werden zu lassen und ihre Anschlussfähigkeit im interdisziplinären Rahmen aufzuzeigen.17 Den von der Evolutionären Erkenntnistheorie geforderten Mesokosmosbezug sieht er durch die Unanschaulichkeit des von der Theologie behandelten Objekts „Gott“ nicht von vornherein verletzt, da Unanschaulichkeit auch in den Naturwissenschaften vorkomme, z.B. in Form von Atomen, Schwarzen Löchern oder Quantenverschränkung. Entscheidend sei, auch in der Evolutionären Erkenntnistheorie, die Projizierbarkeit der Begriffe in den Mesokosmos, d.h. die Lebens- und Erfahrungswelt des Menschen. Dazu diskutiert er am Beispiel der Inkarnation verschiedene Denkansätze, mit denen der Gottesbegriff in den Mesokosmos transformiert werden kann und kritisiert die Modelle, die dabei intellektuell unbefriedigend bleiben. Konkret stellt Lüke den Mesokosmosbezug her, indem der mit der Inkarnation verknüpfte Gottesbegriff sich anhand seiner lebenspraktischen Konsequenzen bewähren müsse, wobei er betont, dass die Frage nach dem Gottesbegriff niemals als abschließend geklärt angesehen werden könne.
Eine Zwischenposition zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften nimmt die Mathematik ein. Während die Reflexion der Denkvoraussetzungen in den Naturwissenschaften eher ein Randphänomen ist oder Philosophen überlassen wird, findet die Diskussion der Legitimität der eigenen Begriffsbildung und Schlussweise in der Mathematik immer wieder fachintern statt, wie der Mathematiker und Philosoph Gregor Nickel ausführt.18 Waren ihre Gegenstände in der Antike Zahlen und Figuren, haben sie sich mittlerweile auf eine Vielzahl von Räumen und ein Geflecht verschiedenster Gegenstände erweitert. Auch habe sich die Metaphysik der Mathematik gewandelt. Ging es in der Antike noch um die Theorie des wirklichen Raumes, wobei die jeweils auf Platon und Aristoteles zurückgehenden Deutungen zueinander in Konkurrenz standen, könne die heutige Mathematik als de-ontologisiert angesehen werden. Grundlegende, nicht weiter beweisbare Voraussetzungen für mathematische Argumentation und Beweisführung seien z.B. der Satz vom auszuschließenden Widerspruch – dass etwas nicht zugleich sei und nicht sei19 – und die Möglichkeit, dass ein Beweis überzeugen kann. Bemerkenswert ist das Bemühen, die Reichweite der Mathematik mit mathematischen Mitteln, also innerhalb der eigenen Wissenschaft zu bestimmen. Nickel weist darauf hin, dass dies jedoch nur unzureichend möglich sei und eine weitergehende Reflexion nur philosophisch erfolgen könne.
Im Bereich der Humanwissenschaften und in weitem Umfang mit empirischen Methoden arbeitend ist die psychologische Verhaltensforschung angesiedelt. Sie geht, so der Psychologe Iring Koch, von der Hypothese aus, dass menschliches Verhalten erklärbar ist und dass ihm deterministische Prozesse zugrunde liegen. Dabei wurden und werden verschiedene Theorieansätze – z.B. Behaviorismus oder kognitive Neurowissenschaften – verfolgt, die sich in der (Vor-)Auswahl der für relevant erachteten Einflussfaktoren unterscheiden. Theoriepostulate werden der experimentellen Prüfung unterzogen, wobei die jeweils zur Verfügung stehenden Untersuchungsverfahren wiederum erheblichen Einfluss auf die Theoriebildung haben, wie sich das aktuell u.a. am Beispiel der bildgebenden Verfahren am Gehirn zeigt. Koch erläutert die Vorgehensweise – Zusammenwirken von theoretischer Hypothese, Experimentdesign und Interpretation empirischer Befunde – der empirischen Psychologie am Beispiel der Untersuchung der intentionalen Handlungssteuerung bzw. der dieser zugrunde liegenden kognitiven Kontrollprozesse. Zielen einzelne Experimente auf das Verständnis konkreter Details des postulierten Mechanismus der intentionalen Handlungssteuerung, so zeigt sich beim Versuch der Synthese zu einem umfassenderen Verständnis menschlichen Verhaltens, dass die Voraussetzung einer Erklärbarkeit im starken Sinne implizit determiniertes Verhalten voraussetzt.20 Dies steht im Konflikt mit der Existenz eines freien Willens, den zu haben wir intuitiv überzeugt sind. Da weder diese Intuition noch die Grundlage empirischer psychologischer Verhaltensforschung einfach aufgebbar sind – obwohl die Existenz des freien Willens vielfach, wenn auch nicht unwidersprochen, bestritten wurde –, bedarf es eines philosophischen Ansatzes, dieses Dilemma zu bearbeiten. Koch verweist dazu auf Arbeiten des Berliner Philosophen Geert Keil.21
Wie stark Denkvoraussetzungen und Motive eine Wissenschaft prägen und verändern, zeigt der Soziologe und Theologe Michael Ebertz. Bei der Soziologie handelt es sich um eine eher junge Wissenschaft, deren Anfänge auf Auguste Comte im 19. Jahrhundert zurückgehen, der sie jedoch noch als „physique sociale“ bezeichnete. Der Name war Programm, denn Comte suchte nach dem Gesetz der Menschheitsentwicklung unter der Annahme, es gebe strenge Gesetze – nach dem Vorbild der Physik – der Entstehung und Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse. Auf der Basis von deren Kenntnis könne und solle die Soziologie zur Erneuerung der Gesellschaft beitragen. Vorausgesetzt wurden auch Werturteile, z.B. über Religion, die es als dem Kindheitsstadium der Menschheit zugehörig zu überwinden galt. Im Gegensatz dazu werde in der Soziologie heute, so Ebertz, ein positivistischer Ansatz verfolgt.22 Die Beobachtung sei oberste Instanz einer tatsachenfundierten Sozialwissenschaft. Im Fokus stehe die Erkenntnis des Seienden, nicht des Seinsollenden, wenn auch die Wahl des Forschungsgegenstands nicht werturteilsfrei sei. Eine Einschränkung bestehe darin, dass sich die Soziologie nicht gleichermaßen für alle Phänomene interessiere, sondern für „typisches gesellschaftliches Verhalten“23. Ebertz führt aus, das Spezifikum der Soziologie bestehe in der ihr eigenen Fragestellung, die von den gesellschaftlichen Konstellationen ausgehe und danach frage, welche Verhältnisse dahinter ständen und welche Verhaltensweisen sie in Gang halten oder ändern können. Dazu bediene sie sich eines breiten Methodenspektrums aus verschiedenen Fachdisziplinen. Auch sei ein großer Theorienpluralismus festzustellen, der in erster Linie als Indiz für Vorentscheidungen über die Art, Soziologie zu treiben anzusehen sei und gleichzeitig die gesellschaftliche Pluralisierung spiegele. Am Verhältnis zur Religion sei die Veränderung dieser Wissenschaft besonders deutlich zu erkennen. Sah Comte Religion noch als zu überwindende Menschheitsphase an, nehme die Soziologie sie heute als soziale Tatsache ernst. Religionssoziologie praktiziere anstelle eines praktischen Atheismus nun einen methodischen Agnostizismus, schreibt Ebertz, der es ihr ermögliche, nach der gesellschaftlichen Bedeutung und der Funktion des Glaubens zu fragen, ohne die Existenz seiner Inhalte zu problematisieren.
Die Klimaökonomie nimmt im Ensemble der in diesem Band vertretenen Wissenschaften insofern eine besondere Stellung ein, als sie unmittelbar auf einen Nutzen hin orientiert ist, denn sie nimmt auf naturwissenschaftlicher Basis ökonomische Abschätzungen vor, die ihrerseits die Funktion haben, Politiker hinsichtlich der politischen Gestaltung des Klimaproblems auf wissenschaftlicher Basis zu beraten. Die Besonderheit besteht neben dem interdisziplinären Ansatz vor allem darin, dass trotz begrenzter Datenlage konkrete handlungsleitende Aussagen gefordert sind. Grundannahmen und Denkvoraussetzungen sind hier noch einmal von anderer Qualität als in den bisher betrachteten Wissenschaften. Der Physiker Hermann Held stellt fest, dass anthropogen verursachter Klimawandel eine der am besten untersuchten wissenschaftlichen Hypothesen sei, die langfristigen Folgen dennoch aus verschiedenen Gründen nicht exakt vorhersagbar seien. Es gelte also, Risiko-Kostenbzw. Effizienzanalysen auf der Basis von Wahrscheinlichkeiten zu machen. Held diskutiert dazu verschiedene Ansätze, die sich in ihren Voraussetzungen – zu denen auch Werteprämissen zählen – und in der Folge auch in ihren Ergebnissen unterscheiden. Der Auftrag, der Politik auf wissenschaftlicher Basis robuste Entscheidungsgrundlagen zu liefern, nötigt die Klimaökonomie, die Grenzen ihres Wissens selbst darzulegen und Methoden hervorzubringen, sowie dennoch vernünftige Lösungen zu erarbeiten.24 Die Auseinandersetzung mit ihren Arbeits- und Denkvoraussetzungen ist für sie daher mit Rücksicht auf ihre Ergebnisse in besonderer Weise unerlässlich, ohne dass dadurch überhaupt metaphysische Fragen berührt wären, wie wir das bei anderen Naturwissenschaften gesehen haben.
Nach diesen Einblicken stellen wir die anfängliche Frage erneut: „Wie objektiv ist Wissenschaft?“
Die Beschäftigung mit den Denkvoraussetzungen der hier betrachteten verschiedenen Disziplinen hat ergeben, dass die Frage mindestens lauten müsste: „Wie objektiv sind die einzelnen Wissenschaften?“ oder noch besser „Wie groß ist die Reichweite der Erkenntnisse in einzelnen Wissenschaften?“ Denn um die Frage nach der Objektivität zu beantworten, müsste zunächst geklärt werden, was darunter zu verstehen ist und damit befinden wir uns bereits im Bereich der Metaphysik. Deutlich ist, dass es sehr spezifische Voraussetzungen für die jeweiligen Fachdisziplinen gibt – mit unmittelbaren Auswirkungen auf die Reichweite der Erkenntnisse im Einzelnen. Im praktischen Alltag und Vollzug der Wissenschaften spielt die Reflexion in der Regel keine Rolle, ohne dass das signifikante Auswirkungen auf die Qualität der wissenschaftlichen Erkenntnisse hätte. Dies ändert sich jedoch, wenn wissenschaftliche Erkenntnisse zur Weltdeutung herangezogen oder zur Weltgestaltung genutzt werden. Dann ist es unerlässlich, Voraussetzungen, Überzeugungen oder gar Werturteile, die nicht der jeweiligen Wissenschaft entstammen, sondern a priori gesetzt wurden, bei der Interpretation der wissenschaftlichen Aussagen mit zu berücksichtigen. „Wer nichts weiß, muss alles glauben“ war der Titel der eingangs genannten Monographie, die sich naturwissenschaftliche Aufklärung auf die Fahnen geschrieben hat. Dem ist zuzustimmen. Allerdings wäre zu ergänzen: Wer meint zu wissen, sollte auch wissen, auf welchem Glauben sein Wissen gründet.
1 „Wer nichts weiß, muss alles glauben“ lautet der Titel eines Buchs über naturwissenschaftliche Sachverhalte (Gruber, W./ Oberhummer, H./ Puntingam, M., Salzburg 2010). Neben dem Ziel, in kabarettistischer Manier zu unterhalten, beanspruchen die Autoren auch „eine Schneise naturwissenschaftlicher Aufklärung durch das Land zu schlagen“. Hier deutet sich an, dass es in diesem Buch nicht nur um Wissen, sondern auch um Weltanschauung geht.
2 Als Vision findet sich dies bereits im „Novum Organum“ von Francis Bacon von 1620.
3 Mutschler, H.D., Naturwissenschaft und die Dispensierung der Sinnfrage. Der wahre Konflikt um Galilei, in: Ders./Peitz, H.H., Die Welt als Gleichnis oder Gleichung? Galileis Programm und die Sinnfrage, Stuttgart 1997, 21f.
4 Ebd., 15.
5 Ebd., 18.
6 Vgl. ebd., 17; Hund, F., Geschichte der physikalischen Begriffe, Mannheim 1972, 388f.
7 Sukopp, Th., Metaphysische und methodologische Hintergrundannahmen in den Naturwissenschaften: Was die Naturwissenschaften, insbesondere die Chemie, diesseits und jenseits von „Natur“ zu wissen meinen, in diesem Band, 18ff.
8 Ebd.
9 Schummer, J., Philosophy of Chemistry, in: Allhoff F. (Hg.) Philosophies of the Sciences: A Guide, Oxford 2010, 177, zit. n. Korber, N., Erkenntnis durch Stoffe, in diesem Band, 34ff.
10 Brakel, J. van, Philosophy of Chemistry, Leuven 2000, zit. n. Korber, N., Erkenntnis durch Stoffe (Fn9).
11 Scherer, S., Denkvoraussetzungen und weltanschauliche Überzeugungen in der Biologie, in diesem Band, 45ff.
12 Gühne, O., Annahmen in der Physik: Ein Beispiel aus der Quantenmechanik, in diesem Band, 81ff.
13 Beuttler, U., Die Lebenswelt als Sinnfundament der Wissenschaft, aufgezeigt an Grundbegriffen der Kosmologie, in diesem Band, 93ff.
14 Ebd.
15 Ebd.
16 Ebd.
17 Lüke, U., Denkvoraussetzungen – Theologie angesichts einer naturalistisch konzipierten Weltsicht, in diesem Band, 105ff.
18 Nickel, G., Vorausgesetzt, ein Beweis überzeugt – Aspekte mathematischen Denkens, in diesem Band, 124ff.
19 Aristoteles, Metaphysik IV, 1005b, zit. n. Nickel, Vorausgesetzt, ein Beweis überzeugt (Fn 18).
20 Koch, I., Menschliches Verhalten ist erklärbar? Experimentalpsychologische Zugänge zur intentionalen Handlungssteuerung, in diesem Band, 141ff.
21 Keil, G., Willensfreiheit, Berlin/New York 2007, zit. nach Koch, Menschliches Verhalten ist erklärbar? (Fn 20).
22 Ebertz, M.N., Soziologie und Soziologie der Religion – Überzeugungen und Denkvoraussetzungen, in diesem Band, 161ff.
23 Bahrdt, H.P., Standort und Zukunft der Soziologie, in: Soziale Welt 40, 1989, 28ff., zit. n. Ebertz, Soziologie und Soziologie der Religion (Fn 22).
24 Held, H., Möglichkeiten und Grenzen des Wissenschaftsverständnisses in der Klimaökonomie, in diesem Band, 179ff.